Page 212 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Sechstes Buch.
Inhaltsverzeichnis
1. Wer demnach die Weisheitsliebenden seien, o Glaukon, sagte ich, und
wer jene, welche dieß nicht sind, hat sich uns vermittelst einer ziemlich
lang sich ausdehnenden Begründung hiemit zur Noth gezeigt. –
Vielleicht auch, sagte er, wäre es vermittelst einer kurzen gar nicht leicht
gewesen. – Allerdings nicht, wie sich gezeigt hat, sprach ich; mir
wenigstens scheint, es würde jenes noch besser zu Tag treten, wenn man
nur über dieses allein zu sprechen hätte, und nicht erst noch vieles
Uebrige durchgehen müßte, woferne man erblicken will, worin sich ein
gerechtes Leben von einem ungerechten unterscheide. – Was also
müssen wir, sagte er, hernach jetzt durchgehen? – Was anderes, sprach
ich, als das zunächst Folgende? Nachdem nemlich Weisheitsliebende
diejenigen sind, welche das immerwährend in gleicher Weise sich
Verhaltende zu ergreifen fähig sind, jene hingegen, welche dieß nicht
können, sondern innerhalb der vielen und in jeder Weise sich
verhaltenden Dinge umherirren, nicht weisheitsliebend sind, so fragt
sich’s, welche von beiden die Führer eines Staates sein sollen. – Durch
welche Ausdrucksweise, sagte er, könnten wir nun dieß wohl gehörig
ausdrücken? – Daß wir, sprach ich, diejenigen von beiden, welche sich
als befähigt zeigen, die Gesetze und die Thätigkeiten der Staaten zu
bewachen, als Wächter aufstellen. – Dieß ist richtig, sagte er. – Ist also
Folgendes, sprach ich, klar, ob ein Blinder oder ein Scharfsichtiger jedes
Ding als Wächter beobachten solle? – Und wie sollte dieß, sagte er, nicht
klar sein? – Scheinen dir nun diejenigen irgend von Blinden sich zu
unterscheiden, welche in Wirklichkeit der Einsicht in die Wirklichkeit
eines jeden Dinges beraubt sind, und kein deutliches Musterbild in ihrer
Seele besitzen, und nicht die Fähigkeit haben, gleichsam wie Maler, im
Hinblicke auf das Wahrste, und in steter Rückbeziehung auf dasselbe und
in möglichst genauer Betrachtung desselben auf solche Weise dann auch
die hier auf Erden geltenden Annahmen betreffs des Schönen und des
Gerechten und des Guten sowohl aufzustellen, falls es nöthig ist, solche
aufzustellen, als auch die bereits bestehenden zu bewachen und zu
bewahren? – Nein, bei Gott, sagte er, sie scheinen mir nicht viel von
Blinden sich zu unterscheiden. – Werden wir also diese eher zu
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