Page 223 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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daß jeder dieß dann Weisheit nennt, gerade wie wenn er etwa die
                Leidenschaften und Begierden eines großen und starken Thieres,
                welches er füttert, studirt hatte, nemlich wie man sich demselben nähern

                und es anrühren dürfe, und wann es am gefährlichsten und am sanftesten
                sei und wodurch es dieß werde, und bei welchen Dingen es Töne von
                sich zu geben pflege, und bei welchen Lauten eines Anderen es zahm
                und wieder wild werde, und er also dann, wenn er all dieß in langem
                Zusammensein und vielem Zeitaufwande studirt hätte, dieß Weisheit
                nennen und nach Kunstregeln zusammenstellen und hiemit an das
                Lehren sich machen würde, ohne in Wahrheit irgendwie bezüglich jener

                Ansichten und Begierden zu wissen, was schön oder schimpflich, oder
                gut, oder bös, oder gerecht, oder ungerecht sei, sondern alle diese
                Bezeichnungen nur je nach den Meinungen des großen Thieres
                gebrauchen würde, etwas Gutes dasjenige nennend, woran jenes Freude
                hat, und etwas Böses, worüber jenes ungehalten ist, und er hiemit keinen
                anderen Begriff von solchen Dingen hätte, sondern das Nothwendige als

                das Gerechte und Schöne bezeichnen würde, die Natur aber des
                Nothwendigen und des Guten in ihrem wirklichen Unterschiede weder
                jemals erblickt hätte, noch einem Anderen sie zu zeigen befähigt wäreEs
                versteht sich von selbst, daß Sokrates hier deutlich genug auf den
                Standpunkt des Thrasymachos anspielt, wie ihn dieser in seiner Rede (B.
                I, Cap. 16) ausgesprochen hatte.. Und wenn er demnach so beschaffen
                ist, scheint er dir da, bei Gott, nicht ein ganz ungereimter Erzieher zu

                sein? – Ja, gewiß, sagte er. – Scheint dir nun etwa von diesem sich jener
                zu unterscheiden, welcher die genaue Kenntnisnahme der Leidenschaft
                und der Gelüste jener vereinigten mannigfachen Menge für Weisheit
                hält, sei es in der Malerei oder in der Musik oder in der Politik? Denn
                wenn Jemand mit jenen Vielen umgeht und vor ihnen Poesie oder irgend
                eine andere Werkthätigkeit oder Dienstleistungen für den Staat zur Schau

                trägt, indem er sie, die Vielen, weit über die Gränze der Noth hinaus zu
                seinen Gebietern macht, so besteht für ihn gewiß die sogenannte
                Diomedeische NothwendigkeitNicht zu verwechseln mit dem aus Homer
                hinreichend bekannten Diomedes, dem Sohne des Tydeus, ist jener
                gleichnamige Heros, von welchem sich die sprüchwörtliche Redeweise
                »Diomedeischer Zwang« herleitete; Letzterer nemlich wird als Sohn des
                Mars und Beherrscher der Bistonischen Thrakier bezeichnet, und von

                den mannigfachen mythologischen Angaben über die Grausamkeit
                desselben, z. B. daß er seine Pferde mit Menschenfleisch gefüttert habe,
                ist für diese platonische Stelle wohl jene die bezeichnendste, daß er seine
                Gastfreunde genöthigt habe, der Wollust seiner Tochter dienstbar zu sein,





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