Page 245 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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lächerlich, bei der Geometrie als ihren wesentlichen Unterschied von
anderen Wissenschaften es zu bezeichnen, daß sie solche Bilder
anwende; denn wenn der Mathematiker an dem vor ihm liegenden oder
von ihm graphisch entworfenen Kegel die Theorie der Kegelschnitte zu
erforschen sich bemüht, so thut er doch wahrlich nichts Anderes, als
wenn der Naturforscher an einem Thier-Individuum oder an einem
Zellen-Gewebe die Gesetze der Structur untersucht; ob der Eine sich
seinen Kegel aus Holz schnitzt, oder mit dem Bleistifte zeichnet, oder
der Andere das Thier mit der Hand oder mit der Schlinge fängt. wird
hoffentlich keinen methodischen Unterschied begründen; auch daß das
vorliegende Thier ein Thier sei, sowie sehr viel Anderes, setzt hiebei der
Naturforscher nicht mehr und nicht weniger voraus, als der
Mathematiker voraussetzt, daß der Kegel ein Kegel sei, sowie gleichfalls
vieles Andere. Daß übrigens auch die Philosophie selbst, wenn sie sich
aller Voraussetzungen entledigen will, in Träumerei übergehen müsse,
wird wohl gleichfalls zugestanden werden.. – Du sprichst wahr, sagte er.
–
21. Dieß demnach meinte ich unter der Einen Art des Denkbaren,
und daß dabei die Seele genöthigt sei, bei Untersuchung desselben
Voraussetzungen anzuwenden, indem sie nicht zum Ausgangspunkte sich
wendet, weil sie nicht über die Voraussetzungen hinaus fortschreiten
kann, sondern Abbilder anwendet, welche von dem niedrigeren Gebiete
abbildlich entnommen sind, und zwar solche, die im Vergleiche mit
diesem Niedreren als deutliche gelten und in Ehren stehen. – Ich
verstehe, sagte er, daß du hiemit jenes meinst, was unter die
geometrischen und die mit diesen verschwisterten Künste fällt. – So
verstehe denn hiemit auch, daß ich unter dem anderen Theile des
Denkbaren jenes verstehe, was die Vernunft vermöge der dialektischen
Fähigkeit selbst ergreift, indem sie die Voraussetzungen nicht zu
Ausgangspunkten, sondern wirklich zu Voraussetzungen macht, nemlich
gleichsam zu Vorstufen und Anläufen, damit sie bis zum
Voraussetzungslosen in den Ausgangspunkt von Allem vordringe und
ihn ergreifend und hinwiederum an jenes sich anknüpfend, was an ihn
sich anknüpft, auf diese Weise zu einem Endpunkte hinabsteige, ohne
hiebei durchaus nur irgend ein sinnlich Wahrnehmbares anzuwenden,
sondern nur die Ideen selbst vermittelst ihrer selbst und um ihrer selbst
willen, und damit sie so eben in Ideen endige. – Ich verstehe es, sagte er;
zwar nicht ganz genügend, denn du scheinst mir hiemit eine sehr
ausgedehnte Thätigkeit zu meinen; jedoch verstehe ich, daß du
feststellen willst, es sei das durch das Wissen der Dialektik an dem
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