Page 258 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Sinneswahrnehmung um Nichts mehr das Eine, als etwa auch den
Gegensatz desselben ausspricht, mag sie von der Nähe oder von der
Ferne aus auf das Ding treffen. In folgender Weise aber wirst du, was ich
meine, deutlicher verstehen: Dieß da nemlich, wollen wir sagen, sind
drei Finger, der kleinste und der Zweite und der mittlere. – Gut, sagte er.
– Und stelle dir demnach vor, daß ich von ihnen spreche, als würden sie
in der Nähe gesehen; erwäge mir aber betreffs derselben Folgendes. –
Was wohl? – Als ein Finger zeigt sich ein jeder derselben in der gleichen
Weise, und in dieser Beziehung ja macht es keinen Unterschied, mag er
in der Mitte oder an der äußersten Stelle gesehen werden, mag er weiß
oder schwarz, mag er dick oder dünn, und kurz all dergleichen sein; denn
bei all diesem wird die Seele der Meisten nicht genötigt, die
Denkthätigkeit erst zu fragen, was wohl ein Finger sei; denn nirgends hat
hiebei der Gesichtssinn ihr kundgegeben, daß der Finger zugleich auch
der Gegensatz eines Fingers sei. – Nein, allerdings nicht, sagte er. –
Nicht wahr also, sprach ich, aus guten Gründen möchte das derartige
wohl Nichts sein, was die Denkthätigkeit auffordern oder erwecken
würde? – Ja, aus guten Gründen. – Wie aber nun? Was die Größe und
Kleinheit derselben betrifft, sieht diese etwa der bloße Gesichtssinn
schon genügend, und macht es ihm hiebei gleichfalls keinen
Unterschied, ob Einer der Finger in der Mitte, oder an der äußersten
Stelle liege? und ebenso bezüglich der Dicke und Dünne oder der
Weichheit und Härte bei dem Tastsinne; und drücken nicht etwa
überhaupt auch die übrigen Sinneswahrnehmungen all das Derartige nur
mangelhaft aus? oder verfährt nicht vielmehr eine jede derselben in
folgender Weise, daß vor Allem z. B. jene Sinneswahrnehmung, welche
für das Harte aufgestellt ist, nothwendiger Weise auch für das Weiche
aufgestellt sein muß, und sie hiemit der Seele in der Wahrnehmung
kundgibt, daß das Nemliche hart und weich istD. h. es liegt hiebei eben
jene platonische Auffassung vor, von welcher wir in den obigen Anmerk.
203 und 204 sprechen mußten, daß nemlich alle Qualitäten relativ seien,
und z. B. das nemliche Ding, welches als hart bezeichnet wird, in
anderen Beziehungen und im Vergliche mit anderen Dingen auch wieder
als weich erscheint. Diese Zwitterhaftigkeit der Qualitäten wird nun als
Entstehungs-Grund der Arithmetik benützt, s. d. folg. Anm. 256[3]. Daß
aber die nemliche Zwitterhaftigkeit auch bezüglich der Substanz der
sinnlich wahrnehmbaren Dinge bestehe (s. Anm. 204), und demnach in
dem hier von Plato gebrauchten Beispiele zuletzt es möglich bleibt, daß
der Finger selbst auch ein Nicht-Finger sei, und das wahre Wissen nur in
der Erkenntniß der Idee des Fingers liege, werden wir unten, Cap. 13 f.,
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