Page 260 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Sinneswahrnehmung schon ergriffen wird, so möchte es wohl nicht zur
                Wesenheit hinziehend wirken, wie wir so eben bei dem Finger dieß
                angaben; hingegen wenn immer zugleich mit ihm auch eine

                Gegensätzlichkeit erblickt wird, so daß es um Nichts weniger ein Eines,
                als auch der Gegensatz hievon zu sein scheint, so möchte es wohl noch
                erst des entscheidenden Richters bedürfen, und die Seele hiebei
                genöthigt werden, in Rathlosigkeit sich zu befinden und eine
                Untersuchung anzustellen, indem sie in sich selbst das Denken in
                Bewegung setzt und sich frägt, was denn wohl das Eins an und für sich
                sei, und auf diese Weise möchte der auf das Eins bezügliche Unterricht

                wohl zu jenem gehören, was zur Anschauung des Seienden hinführt und
                hinüberlenkt. – Aber in der That ja, sagte er, enthält gerade dieß in dieser
                Beziehung in hohem Grade der Gesichtssinn; denn zugleich sehen wir
                das Nemliche als Eines und als ein der Zahl nach Unbegrenztes. – Nicht
                wahr also, sprach ich, wenn es dem Eins so ergeht, so ergeht es der
                gesamten Zahl überhaupt ebenso? – Warum sollte es auch nicht? – Nun

                aber betrifft jede Rechenkunst und Zahlenlehre eine Zahl. – Ja wohl, gar
                sehr. – Von dieser aber zeigt sich ja, daß sie zur Wahrheit
                hinleitetMerkwürdig – um keine andere Bezeichnung zu gebrauchen –
                bleibt diese ganze Ableitung der Arithmetik gewiß. Den Zielpunkt der
                Beweisführung, welcher darin liegt, daß die Arithmetik zur Erkenntnis
                des reinen Seins förderlich sei, geben wir natürlich gerne zu; aber wie
                steht es mit jener begrifflichen Construction der Arithmetik? Plato

                rechnet den Gegensatz des Einen und Vielen, welcher wirklich die
                materielle Basis der Arithmetik ist, in völlig gleicher Gattung zu einer
                großen und umfassenden Gruppe vieler Gegensatzpaare, unter welchen
                beispielsweise auch Schwarz und Weiß, Dick und Dünn, Groß und Klein,
                erscheinen, und er ist der Ansicht, daß alle diese Qualitäten sehr relativ
                seien (s. obige Anm. 256). Hiebei aber werden wir billig fragen dürfen,

                erstens ob denn das numeräre Verhältniß der Dinge als ein bloßes
                Eigenschaftswort den übrigen Qualitäten so schlechthin gleichgestellt
                werden könne, d. h. ob denn, wenn ich von einem Dinge sage, daß es
                Eins ist, dieß die gleiche Denkoperation sei, wie wenn ich es als schwarz
                bezeichne; und zweitens fragen wir, wenn denn schon jede specifische
                That des Zählens mißkannt werden will, warum nicht auch eine der
                Arithmetik entsprechende Lehre des Dicken und Dünnen, des Harten und

                Weichen, entstehe. Will man aber hingegen jenes betonen, daß Plato im
                Vorhergehenden bei dem gesammten Gebiete dieser Gegensätzlichkeiten
                überhaupt die Unterscheidung einer abgegränzten Zweiheit von einer
                unentschiedenen und zerflossenen Einheit hervorgehoben habe, und also





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