Page 315 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Neuntes Buch.
Inhaltsverzeichnis
1. Jener Mensch selbst demnach, sagte ich, welcher der Gewaltherrschaft
entspricht, ist uns noch übrig, daß wir betreffs seiner erwägen, sowohl
wie er aus dem demokratischen Menschen hervorgehe, als auch wie
beschaffen er sei, wenn er entstanden ist, und in welcher Art und Weise
er lebe, ob unglücklich oder glückselig. – Ja, allerdings, sagte er, dieser
ist uns noch übrig. – Weißt du also, sprach ich, wornach ich noch ein
Verlangen habe? – Wornach wohl? – Was die Begierden und deren
Beschaffenheit und Zahl betrifft, scheint es mir, als hätten wir sie noch
nicht erschöpfend eingetheilt; so lange aber dieß noch mangelhaft ist,
wird die Untersuchung, welche wir vornehmen, etwas unklar sein. – Ist
es also nicht noch an der Zeit, sagte er, dieß nachzuholen? – Ja,
allerdings; und erwäge demnach, was ich betreffs derselben noch zu
betrachten wünsche. Es ist dieß aber Folgendes: Von jenen nicht
nothwendigen Vergnügungen und BegierdenS. B. VIII, Cap. 12.
scheinen mir einige gesetzwidrig zu sein, von welchen einem Jeden die
Gefahr droht, daß sie in ihm entstehen, welche jedoch durch die Gesetze
und die besseren Begierden mit Beiziehung der Vernunft im Zaume
gehalten werden können und dann aus einigen Menschen entweder ganz
sich entfernen, oder nur in geringer Anzahl und schwach in ihnen
zurückbleiben, bei anderen aber stärker und in größerer Anzahl. –
Welche aber meinst du hiemit? sagte er. – Jene, erwiederte ich, welche
zur Zeit des Schlafes erwachen, wann nemlichDiese ganze Stelle über
die Thätigkeit der drei Seelenkräfte während des Schlafes gibt Cicero (
de divin.
I, 29) in ziemlich treuer Uebersetzung; vgl. obige Anm. 4. jener übrige
Theil der Seele, welcher vernünftig und zahm ist und über den anderen
herrscht, in Schlaf gesunken ist, der thierische und wilde Theil aber, von
Speise oder Trank erfüllt, üppig sich bäumt und den Schlaf abschüttelnd
fortzustürmen und seinen eigenen Sinn zu befriedigen sucht; weißt du
wohl, daß in solchem Zustande er Alles zu thun wagt, wie wenn er von
allem Schamgefühle und aller verständigen Einsicht entblößt und
losgeschält wäre; daß er nemlich, wie es ihm dünkt, keinen Anstoß daran
nimmt, seine eigene Mutter oder jedweden anderen Menschen oder einen
Gott oder ein Thier zu seiner geschlechtlichen Lust zu mißbrauchen, daß
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