Page 349 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Anschauungsweise und Manier der Tradition bei den Alten überhaupt;
                das geschichtliche Faktum aber, welches zu Grunde liegt, beruht darin,
                daß auf Chios ganz vorzüglich die Pflege homerischer Dichtungsweise in

                Inhalt und Vortrag sich längere Zeit erhielt, wodurch der
                Zusammenstellung der homerischen Gesänge entweder vorgearbeitet,
                oder dieselbe zum Theile wirklich bewerkstelligt wurde. keiner genannt.
                – Aber wird etwa ein Krieg erwähnt, welcher zur Zeit des Homeros unter
                seiner Leitung oder auf seinen Beirath hin gut geführt wurde? – Nein,
                keiner. – Aber etwa solche Werke eines weisen Mannes, wie gar viele
                erfinderische Gedanken bezüglich der Künste oder anderweitigen Thuns

                berichtet werden, wie z. B. von dem Milesier Thales und dem Skythen
                AnacharsisDem Thales wurden mannigfache Erfindungen in Bezug auf
                Geometrie und deren Anwendung zugeschrieben; Anacharsis aber,
                welcher gleichfalls den sog. sieben Weisen beigezählt wurde (s. m.
                Uebers. d. gr. Ph. S. 11), soll namentlich für Veredlung der Sitten
                überhaupt in Skythien höchst förderlich gewirkt haben.? – Keineswegs

                irgend Etwas dieser Art. – Aber wenn denn nicht in staatlichen Dingen,
                wird Etwa betreffs Einzelner erwähnt, daß ihnen Homeros bei Lebzeiten
                ein Führer der Bildung geworden sei, welche ihn dann wegen des
                Verkehres mit ihm liebgewonnen und den Nachkommen einen
                homerischen Pfad des Lebens hinterlassen hätten, sowie Pythagoras
                sowohl selbst ausnehmend deswegen geliebt wurde, als auch die
                Späteren noch jetzt in einer Lebensweise, welche sie als die

                pythagoreische bezeichnen, besonders unter den Uebrigen
                hervorzuleuchten scheinen. – Auch Derartiges hinwiederum, sagte er,
                wird Nichts erwähnt; denn KreophylosKreophylos wird als einer der
                Aeltesten unter jenen Homeriden, auch als Freund oder selbst als
                Schwiegersohn des Homeros bezeichnet; von seinen Nachkommen soll
                Lycurgus die homerischen Gedichte bekommen haben; auch wird von

                einer Veruntreuung berichtet, insoferne Kreophylos ein Gedicht des
                Homeros als sein eigenes Produkt ausgegeben habe. Was die hier
                gemachte Anspielung auf den Namen betrifft, so bedeutet die erste
                Hälfte desselben (κρέας) Fleisch, die zweite (φυλή) Stamm oder
                Geschlecht., der Freund des Homeros, möchte vielleicht, o Sokrates,
                noch lächerlicher, als sein Name schon ist, bezüglich der Bildung sich
                zeigen, woferne wahr ist, was über Homeros gesagt wird; man sagt

                nämlich, daß er, so lange er lebte, eben unter dem Einflusse Jenes sehr
                vernachlässigt wurde. –
                     4. Allerdings sagt man wenigstens so, sprach ich; aber glaubst du, o
                Glaukon, daß, wenn Homeros wirklich im Stande gewesen wäre,





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