Page 356 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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hart oder zu schroff erscheinen können, wenn wir oben, Anm. 325,
                sagten, bei Plato liege ein arges Mißverständniß oder ein Mangel an
                Einsicht in das Wesen der Kunst vor.. –

                     7. Aber noch haben wir nicht die größte Anklage gegen die Kunst der
                Nachahmung ausgesprochen; nemlich daß sie Kraft genug hat, selbst den
                Tüchtigen eine Makel anzuheften, mit Ausnahme irgend sehr Weniger,
                ist doch wohl etwas gar Arges. – Wie sollte es auch nicht so sein,
                woferne sie wirklich Solches thut? – So höre denn und erwäge. Nemlich
                selbst wenn die Besten unter uns von Homeros oder auch irgend einem
                Anderen der Tragödiendichter die Nachahmung eines Helden hören,

                welcher in einem Leiden sich befindet und eine lange Rede in seinen
                Wehklagen hinausdehnt, oder auch wie die Helden singen und sich die
                Brust zerschlagen, so weißt du wohl, daß wir dabei Freude empfinden
                und uns dem Eindrucke hingeben und ihm folgen und in Mitgefühl und
                eifriger Theilnahme jenen Dichter loben, welcher uns im höchsten Grade
                in einen solchen Zustand versetzt. – Ja, ich weiß es; wie sollte ich auch

                nicht? – Wann hingegen Einem von uns ein ihm eigener Kummer
                erwächst, so bemerkst du hinwiederum, daß wir gerade mit dem
                Gegenteile hievon uns brüsten, nemlich wenn wir im Stande sind, uns
                ruhig zu verhalten und auszuharren, eben als wäre dieß Sache eines
                Mannes, jenes aber, was wir damals lobten, Sache eines Weibes. – Ja, ich
                bemerke es, sagte er. – Ist also wohl, sprach ich, ein solches Lob richtig,
                wenn man beim Anblicke eines derartigen Mannes, wie man selbst nicht

                zu sein wünscht, sondern im Gegentheile sich schämen würde, nicht von
                Verachtung erfüllt wird, sondern Freude an ihm hat und ihn lobt? – Nein,
                bei Gott, sagte er, solches scheint nicht wohlbegründet zu sein. –
                Allerdings nicht, erwiderte ich, wenn du es in folgender Beziehung
                erwägst. – In welcher? – Wenn du bedenkst, daß dasjenige, was bei
                eigenen Unfällen im Zaume gehalten wird und darnach dürstet, weinen

                zu können und hinreichend Wehklagen aufzuschütten und hieran sich zu
                sättigen, weil es eben derartig beschaffen ist, daß es hiernach ein
                Verlangen hat, gerade von den Dichtern gesättigt und in Freude versetzt
                wird; wohingegen der von Natur aus beste Theil in uns, weil er nicht
                hinreichend durch Vernunft und Gewöhnung gebildet ist, die Aufsicht
                über jenes Weinerliche schlaffer führt, indem es bloß fremde
                Leidenschaften und Etwas, was keine eigene Schande ist, betrachte, so

                daß es, falls ein sich als einen Guten bezeichnender Mann zur Unzeit
                über Leiden klagt, ihn lobt und bemitleidet, dabei aber an eben jenem,
                nemlich an dem Vergnügen, Etwas zu gewinnen glaubt und es nicht sich
                gefallen ließe, Desselben beraubt zu werden, wobei es dann das ganze





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