Page 359 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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mein lieber Freund, so werden, wie diejenigen, welche einmal in Etwas
verliebt waren, bei erlangter Einsicht, daß diese Liebe nicht nützlich sei,
von ihr sich, wenn auch mit Gewalt, enthalten, ebenso auch wir in Folge
der Liebe, welche zu einer derartigen Dichtkunst durch die Erziehung in
unseren herrlichen Staatsverfassungen uns eingepflanzt wurde, zwar
wohlmeinend uns dabei verhalten, daß sie als die beste und wahrste sich
gezeigt habe, hingegen werden wir, so lange sie nicht im Stande ist, sich
zu vertheidigen, sie nur anhören, indem wir uns selbst die von uns
angeführte Begründung als zauberbannendes Lied vorsingen und uns
davor hüten, wieder in jene kindische und dem großen Haufen
zustehende Liebe zu verfallen. Wir wollen also hiemit fühlen, daß man
um die derartige Dichtkunst nicht im Ernste sich bemühen solle, als
enthielte sie Wahrheit und als sei sie eine ernste, sondern daß man vor ihr
beim Anhören sich in Acht nehmen müsse, indem man um die im
eigenen Inneren bestehende Staatsverfassung besorgt ist, und daß man
überhaupt für wahr halten müsse, was wir betreffs der Dichtkunst gesagt
haben. – Ja, durchaus, sagte er, bejahe ich dieß. – Groß allerdings, sprach
ich, ist der Kampf, o lieber Glaukon, groß, wie man sich ihn nicht
vorstellt, da es sich darum handelt, entweder gut oder schlecht zu
werden, so daß weder durch Ehre, noch durch Geld, noch durch irgend
eine Ausübung der Herrschaft, noch aber auch durch Dichtkunst sich
verleiten zu lassen sich’s lohnt, so daß man Gerechtigkeit und die übrige
Vortrefflichkeit vernachlässigen würde. – Auch dieß bejahe ich, sagte er,
in Folge dessen, was wir durchgegangen haben; ich glaube aber auch,
daß jedweder Andere es bejahen würde. –
9. Und in der That nun, sprach ich, den größten Lohn ja und die
großen für Vortrefflichkeit ausgesetzten Kampfpreise haben wir bisher
noch nicht durchgegangen. – Eine unaussprechliche Größe derselben,
sagte er, deutest du hiemit an, wenn es noch anderes Größeres, als das
bisher Gesagte, gibt. – Wie aber, sprach ich, sollte auch in kleiner Zeit
Großes entstehen? denn diese ganze Zeit, vom Kinde an bis zum Greise
gerechnet, ist im Vergleiche mit der gesammten Zeit überhaupt doch
wohl eine kleine. – Ja, allerdings so viel wie Nichts, sagte er. – Wie also
nun? Glaubst du, ein unsterbliches Wesen müsse um einer so
unbedeutenden Zeit willen sich eifrig bemühen, und nicht um der
gesammten willen? – Ich glaube gewiß Letzteres, sagte er; aber was
meinst du hiemit? – Hast du denn nicht bemerkt, sprach ich, daß unsere
Seele unsterblich ist und niemals zu Grunde geht? – Und er schaute mich
an und sprach verwundert: Nein, bei Gott, ich gewiß nicht; kannst aber
du vielleicht dieß behaupten? – Ja, sagte ich, woferne ich hiemit kein
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