Page 458 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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6. [Karneades, ein Philosoph aus der akademischen Schule, dessen
Gewandtheit im Disputiren, dessen Beredsamkeit und Scharfsinn Jeder,
der sie noch nicht kennt, aus der Schilderung, die Cicero von ihm macht
352 erkennen kann, oder aus der Aeußerung des Lucillius, bei welchem
Neptunus, wie er von einer äußerst schwierigen Sache spricht, erklärt,
das lasse sich nicht in's Reine bringen, und wenn sogar den Karneades
die Unterwelt wieder entließe: dieser Karneades sprach, als er von den
Athenern [als Gesandter] nach Rom geschickt worden war, in Gegenwart
des Galba und Cato Censorius, der damaligen größten [Römischen]
Redner, über die Gerechtigkeit mit rednerischer Fülle. Allein er stieß am
folgenden Tage seinen ganzen Vortrag durch einen in entgegengesetztem
Sinne wieder um, und verwarf die Gerechtigkeit, die er Tags zuvor
gepriesen hatte; zwar nicht mit der würdigen Haltung eines Philosophen,
dessen Grundsätze fest und beharrlich seyn müssen, sondern mit einer
erworbenen redekünstlerischen Fertigkeit, über Alles für und wider zu
sprechen. 353 Eine Gewohnheit, die er angenommen hatte, um Andere,
was sie auch immerhin aufstellen mochten, widerlegen zu können. Diese
Rede, in welcher die Gerechtigkeit vernichtet wird, trägt bei Cicero
L. Furius aus der Erinnerung vor: ohne Zweifel, um bei seiner
Abhandlung über den Staat, die Vertheidigung und den Preis derjenigen
[Tugend] einflechten zu können, von der er glaubte, daß ohne sie der
Staat gar nicht regiert werden könne. In seiner ersten Rede hatte aber
Karneades schon mit dem Vorsatze, den Aristoteles und Plato zu
widerlegen, die die Sachwalter der Gerechtigkeit sind, alle Gründe, die
für die Gerechtigkeit [gewöhnlich] vorgebracht wurden,
zusammengestellt, um sie dann, wie er auch that, umstoßen zu können.]
7. [Die meisten Philosophen, besonders aber Plato und Aristoteles,
haben viel über die Gerechtigkeit gesprochen, indem sie diese Tugend
über Alles verfochten und erhoben, weil sie Jedem das Seinige gebe;
weil sie Unparteilichkeit gegen Alle beobachte, und, während die
übrigen Tugenden gleichsam stumm und in dem Menschen verschlossen
seyen, die Gerechtigkeit allein nicht blos für den Menschen selbst Werth
habe [der sie in sich trage], und in ihm verborgen sey, sondern ganz nach
außen hervortrete, und zum Wohlthun geneigt sey, um ja recht Vielen zu
nützen. Als ob nur Richter und Beamte gerecht zu seyn brauchten, und
nicht alle Menschen! Ist doch kein Mensch, auch nicht der Niedrigste
und selbst ein Bettler, der nicht Gerechtigkeit ausüben könnte. Allein
weil sie nicht wußten, was sie selbst und was ihre Quelle sey, so
schrieben sie diese erhabene Tugend, das ist, dieses Gemeingut Aller,
nur Wenigen zu, und sagten, sie habe es nie auf eigenen Nutzen
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