Page 463 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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zu: ein Irrthum, in welchem nicht nur das Volk und die Ungebildeten
                befangen sind, sondern auch die Philosophen, die sogar Vorschriften zur

                Ungerechtigkeit geben.       377 ]
                     14. * * * nämlich Alle, die in einem Volke Gewalt über Leben und
                Tod haben, Tyrannen; allein sie wollen sich lieber mit dem Namen des
                allgütigen Juppiters, Könige, benennen lassen.           378  Wenn aber eine

                Anzahl Menschen wegen ihres Reichthums oder ihres Herkommens,
                oder durch irgend ein Uebergewicht die oberste Macht im Staate in
                Händen haben, so ist dieß eine Faction: sie heißen aber Optimaten. Hat
                aber das Volk die größte Macht, und wird der ganze Staat nach dessen
                Willkühr regiert, so nennt man Das Freiheit, es ist aber Zügellosigkeit.

                Wenn aber Einer den Andern scheut, nicht nur der Einzelne den
                Einzelnen, sondern auch ein Stand den andern, dann findet, weil Keiner
                sich [eigenmächtig zu handeln] getraut, gleichsam ein Vertrag zwischen
                dem Volke und den Vornehmen statt: und daraus entsteht dann die von
                Scipio gepriesene gemischte Verfassung. Denn die Mutter der
                Gerechtigkeit ist nicht die Natur, noch der Wille, sondern das
                Unvermögen [Unrecht zu thun]. Denn wenn man von dreien Eins wählen

                müßte, entweder beleidigen, ohne beleidigt zu werden, oder beleidigen
                und beleidigt werden, oder keins von beiden; so ist das Beste, ungestraft
                beleidigen zu können,       379  das Nächste daran, weder beleidigen noch

                beleidigt zu werden, das Unseligste, in ewigem Kampfe mit Anthun und
                Abwehren des Unrechts begriffen zu seyn. Demnach Wer jenes Erste zu
                erreichen * * *     380


                                            [Lücke von einigen Seiten.]


                15. [ Der Inbegriff der Rede des Carneades war folgendes: Es haben die
                Menschen ihres Vortheils wegen unter einander gegenseitige Rechte

                festgesetzt   381  natürlich so verschiedene, als ihre Sitten verschieden sind,
                und bei demselben Volke nach dem Wechsel der Zeiten oft wechselnde;
                ein von der Natur ausgehendes Recht gebe es aber nicht. Alle lebenden
                Wesen, Menschen wie Thiere, haben einen natürlichen Trieb, ihren

                Nutzen zu suchen: folglich gebe es überhaupt keine Gerechtigkeit, oder
                wenn es eine gebe, so sey sie die größte Thorheit, weil sie sich, indem
                sie für fremde Vortheile sorgt, selbst schade. Dem fügte er noch als
                Beweis bei: Alle Völker, die ihre Herrschaft auf eine blühende Höhe
                gebracht hätten, ja auch die Römer selbst, die Herren des ganzen








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