Page 466 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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überhaupt Einen, der      392  nicht uns gehört, nicht einmal anzurühren. Was

                wird nun der Gerechte thun, wenn er etwa Schiffbruch gelitten, und ein
                Schwächerer,     393  als er, ein Brett ergriffen hat? Wird er ihn nicht von
                dem Brette herunterstoßen, um sich selbst auf dasselbe zu schwingen,
                und, durch dasselbe über dem Wasser erhalten, sich zu retten? besonders
                da er mitten auf dem Meere keinen Zeugen um sich hat? Ist er weise

                [klug], so wird er es thun; denn thut er es nicht, so muß er selbst zu
                Grunde gehen. Will er aber lieber sterben, als einem Andern Gewalt
                anthun, dann ist er zwar allerdings gerecht, aber ein Thor, daß er sein
                eigenes Leben nicht schont, während er ein fremdes schont. Ferner:
                Wenn dieser Gerechte in einem Heere ist, das eine Schlacht verloren hat,

                und die Feinde das geschlagene Heer verfolgen; und er nun einen
                Verwundeten antrifft, der zu Pferde sitzt, wird er Diesen schonen, um
                dann selbst [auf der Flucht] getödtet zu werden; oder wird er ihn vom
                Pferde herunterstoßen, um selbst dem Feinde entrinnen zu können? Thut
                er das Letztere, so handelt er weise [klug], aber unrecht; thut er es nicht,
                so ist er gerecht, aber eben darum auch nothwendig thöricht. – Nachdem
                er [Carneades] nun so die Gerechtigkeit in zwei Theile getheilt hatte,

                deren einen er die bürgerliche Gerechtigkeit nannte, den andern die
                natürliche, untergrub er beide dadurch, daß er zeigte, die bürgerliche sey
                zwar Weisheit [Klugheit], aber Gerechtigkeit sey sie nicht; die natürliche
                aber sey zwar Gerechtigkeit, aber sie sey nicht Weisheit. Das sind
                durchaus spitzfindige und dabei [moralisches] Gift enthaltende
                Ansichten; und sie sind wirklich von der Art, daß M. Tullius sie nicht

                widerlegen konnte. Denn in der Rede, in welcher er den Lälius dem
                Furius antworten und die Gerechtigkeit vertheidigen läßt, geht er daran,
                wie an einer Grube herum, und läßt sie unwiderlegt. Lactantius Inst.
                V, 16.]  394
                     21. [* * * Scipio. Ich würde keine Schwierigkeit machen, mein

                Lälius, wenn ich nicht dächte, diese [unsere Freunde] hier wünschen es,
                [daß du für die Gerechtigkeit sprechest, sagte Scipio], und wenn ich
                nicht selbst wünschte, daß du bei diesem unserm Gespräche auch eine
                Rolle übernehmest. zumal, da du gestern selbst gesagt hast, du werdest
                uns wohl noch gar zu viel reden: ein Fall, der übrigens garnicht eintreten

                kann; daß du dich uns nur nicht ganz entziehen mögest, darum bitten wir
                dich Alle.   395  – Bei Gellius N. A. I. 22., wo aber das zweite Buch
                unseres Werkes citirt wird.]
                     [– Lälius. Allein unsere Jugend sollte ihn gar nicht anhören: denn hat
                er so gedacht, wie er spricht, so ist er ein sittlich verdorbener Mensch;






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