Page 472 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 472

ein Tyrann ist, da ist nicht, wie ich es gestern nannte, eine fehlerhafte,
                sondern, wie ich mich nach genauerm Nachdenken ausdrücken muß, gar
                keine Verfassung [es ist gar kein Staat].

                     32. Ganz trefflich gesprochen, sagte Lälius; denn ich sehe schon, wo
                deine Rede hinaus will. Scipio. Du siehst also, daß auch ein Staat, der
                ganz in den Händen einer Faktion ist, im Grunde nicht mit Recht ein
                Staat [ein Gemeinwesen] genannt werden kann. Lälius. Das ist ganz
                meine Ansicht. Scipio. Und zwar eine vollkommen richtige. Denn hatte
                wohl damals Athen eine Verfassung [war es ein Gemeinwesen], als nach
                dem langedauernden Peloponnesischen Kriege jene dreißig Männer über

                jene Stadt auf's ungerechteste herrschten? Machte der alte Ruhm der
                Bürger, die Herrlichkeit der Stadt selbst, ihre Theater, ihre Gymnasien
                [Uebungsgebäude und Plätze für die Jugend], ihre Säulenhallen, ihre

                hochberühmten Propyläen          418 , ihre Burg [Akropolis], die Wundergebilde
                des Phidias, oder jener prachtvolle Piräeus, daß damals ein
                Gemeinwesen bestand? Im geringsten nicht, erwiederte Lälius, denn es
                war ja keine Volkessache [ res populi]. Scipio. Und was war es zu
                Rom, als die Zehen-Männer, ohne daß von ihnen eine Provocation
                stattfand, regierten, [besonders] in jenem dritten Jahre. da die Freiheit
                selbst ihre Rechtsansprüche verloren hatte? Lälius. Eben so wenig eine
                Volksache: im Gegentheil mußte das Volk erst wieder Anstalten treffen,

                sich Das, was seine Sache [sein Recht] war, wieder zu erringen.
                     33. Ich komme nun auf die dritte oben berührte Form, wo es scheinen
                kann, als werde ich mich in einiger Verlegenheit befinden. Wird nämlich
                gesagt, es werde hier Alles durch das Volk gethan, und Alles sey in der
                Gewalt des Volkes; wenn die Masse des Volkes Jeden, den sie will, mit

                dem Tode bestraft, wenn sie, was sie nur will, wegschleppt, fortreißt,
                festhält, verschleudert: kannst du dann, Lälius, sagen, das sey kein
                Gemeinwesen [Staat], wenn doch Alles dem Volk gehört, weil wir denn
                doch haben wollen, ein Staat [ res publica] soll Volkessache [ res
                populi] seyn? Darauf erwiederte Lälius: Entschiedener möchte ich
                gerade keiner Form den Namen Gemeinwesen [Staat, Verfassung]
                absprechen, als der, wo Alles in der Gewalt des großen Haufens ist:

                gerade so, wie ich erklärte, Syrakus habe keine Verfassung gehabt, und
                auch Agrigent und Athen nicht, als sie unter Tyrannen standen, eben so
                wenig Rom, als hier die Decemvirn regierten: und ich sehe nicht ab, wie
                die Gewaltherrschaft des großen Haufens besser den Namen
                Gemeinwesen verdiene. Denn erstlich ist mir, wie eben du den Begriff
                trefflich aufgestellt hast, Scipio, eine Menschenmasse nur dann ein Volk,

                wenn es durch Uebereinstimmung des Rechts [durch ein Recht, worüber




                                                          471
   467   468   469   470   471   472   473   474   475   476   477