Page 475 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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jener Staat [Rom] nie ein [wahrer] Staat gewesen sey, weil nie in ihm
                wahre Gerechtigkeit statt fand. Nach mehr Beifall verdienenden
                Bestimmungen aber war doch gewissermaßen ein wirklicher Staat da,

                und zwar einer, der von den ältern Römern besser, als von den spätern,
                verwaltet wurde.
                     – Hier ist die Stelle, Das so kurz und deutlich als möglich
                auseinander zu setzen, was ich im zweiten Buche dieses Werkes weiter
                unten zu beweisen versprach, daß, nach den eigenen Bestimmungen des
                Cicero, die er den Scipio in den Büchern vom Staate aussprechen läßt,
                Rom nie ein [wahrer] Staat gewesen sey. Denn er sagt ganz kurz: ein

                Staat [ res publica] ist Volkessache [ res populi] u. s. w.              428  Ein Volk
                aber ist ein Verein einer Menschenmenge, die durch ein verabredetes
                Recht und gemeinschaftlichen Vortheil verbunden ist. Was er aber unter

                verabredetem Rechte [oder einem Rechte, worüber man
                übereingekommen ist] verstehe, erklärte er im Verfolge der
                Untersuchung, indem er zeigt, ein Staat könne ohne Gerechtigkeit gar
                nicht geleitet werden [gar kein Bestehen haben]: wo also keine wahre
                Gerechtigkeit stattfindet, da ist auch kein Recht möglich. Denn was nach
                Recht geschieht, geschieht doch wahrlich gerecht: was aber ungerecht
                geschieht, kann nicht nach Recht geschehen. Denn als Rechte darf man
                doch wohl unbillige Einrichtungen der Menschen nicht erklären und

                ansehen: da sie ja selbst erklären, Recht sey Das, was aus der
                Gerechtigkeit, als seinem Urquell, herfließe; und falsch sey, was von
                Einigen, die eine unrichtige Ansicht haben, gewöhnlich behauptet wird,
                nämlich Das sey Recht, was Dem, der überwiegende Macht hat,
                vortheilhaft ist. Demnach kann, wo nicht wahre Gerechtigkeit stattfindet,

                ein Verein von Menschen, die sich durch ein Recht verbunden haben,
                über das sie übereingekommen sind, nicht stattfinden, und folglich auch
                kein Volk, nach jener Bestimmung des Scipio oder des Cicero: und wo
                kein Volk ist, ist auch keine Volkessache, sondern die Sätze irgend einer
                Menschenmasse, die des Namens Volk nicht würdig ist. Daraus also,
                wenn ein Staat ( res publica) Volkessache ist, [eine Menschenmasse]
                aber kein Volk ist, die nicht durch ein verabredetes Recht verbunden ist;

                ein Recht aber nicht ist, wo keine Gerechtigkeit ist: läßt sich ohne
                Zweifel schließen, daß, wo keine Gerechtigkeit ist, auch kein Staat ist.
                Gerechtigkeit ist ja die Tugend, die einem Jeden zutheilt, was ihm
                gebührt. –











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