Page 484 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Aufrecht steht Roms Macht, nur durch Sitten und Männer der Vorzeit:
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                einVers, sagt er, in welchem wegen seiner Kürze und Wahrheit der
                Dichter eine Art von Orakel ausgesprochen zu haben scheint. Denn
                weder die Männer, hätten nicht unter den Bürgern solche Sitten

                geherrscht, noch die Sitten, wären nicht solche Männer an der Spitze
                gestanden, hätten einen Staat gründen oder so lange aufrecht erhalten
                können, der sich zu einer solchen Höhe erhob, der so verdient und in so
                großer Ausdehnung seine Herrschaft ausbreitete. Darum lag es auch vor
                unserer Zeit in der Sitte unseres Vaterlandes, ausgezeichneten Männern
                die Leitung anzuvertrauen, und die durch Rang hervorragenden Männer
                hielten denn auch wieder ihrerseits die alte Sitte und die Einrichtungen

                unserer Vorfahren aufrecht. Unser Zeitalter dagegen, auf das sich der
                Staat wie ein treffliches Gemälde, aber mit von Alter etwas verblichenen
                Farben, vererbt hatte, versäumte es nicht blos, es mit denselben Farben
                wieder aufzufrischen, die es ursprünglich gehabt hatte, sondern ließ es
                sich nicht einmal angelegen seyn, wenigstens die Zeichnung und

                gleichsam die äußersten Umrisse jenes Gemäldes zu erhalten. Denn wo
                ist noch eine Spur von den alten Sitten, durch die Roms Macht, wie der
                Dichter sagt, aufrecht stand? Sind sie doch so ganz in Vergessenheit
                versunken, daß man sie nicht blos nicht mehr übt, sondern sogar nicht
                mehr kennt. Und was soll ich von den Männern sagen? Eben weil es an
                Männern fehlte, sind die Sitten untergegangen: und über diesen großen
                Schaden müssen wir nicht blos Rechenschaft ablegen, sondern

                eigentlich, wie eines todeswürdigen Verbrechens Angeklagte,
                gewissermaßen uns vor Gericht stellen und verantworten. Denn durch
                unsere Verdorbenheit, nicht durch einen Unglücksfall, ist es dahin
                gekommen, daß unser Staat [unsere Verfassung] zwar dem Namen nach
                noch besteht, aber dem Wesen nach längst verloren ist. Dieses
                Geständniß legt Cicero lange nach dem Tode des Scipio ab, den er in

                seinem Werke über den Staat redend eingeführt hat. – Augustin. de Civ.
                Dei II, 21.  457 ]

                     2. * * *  458  Nichts sey eines Königs so würdig, als die
                Auseinandersetzung Dessen, was der Billigkeit gemäß ist, und dazu
                gehörte die Erklärung über Recht und Unrecht, weil die einzelnen Bürger
                ihre Rechtsstreitsachen den Königen zur Entscheidung vorlegten.                 459

                Aus diesem Grunde wurden auch dem Könige ausgedehnte und
                ergiebige Ländereien als Eigenthum angewiesen, die er als Ackerfeld,






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