Page 491 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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6. [Es findet sich, daß Tullius diese Ordnung mit eben so viel
                Feinheit des Urtheils, als Geist beibehalten hat. Nachdem er in seinem
                Werke vom Staate für Friedens- und für Kriegszeiten [oder: für

                Privatleben und öffentliches Leben] den Beweis geführt hat, daß
                Gerechtigkeit im Staate obenan stehen müsse; hat er die heiligen
                Wohnsitze der unsterblichen Geister, und die Geheimnisse der
                überirdischen Räume an den Endpunkt und Gipfel des vollendeten
                Werkes gesetzt,     472  und damit angedeutet, wohin Diejenigen gelangen

                oder vielmehr zurückkehren müssen, welche den Staat mit Besonnenheit,
                Gerechtigkeit, Muth und Mäßigung geleitet haben. Aber jener Erzähler
                der Geheimnisse war bei Plato ein gewisser Er aus Pamphylien, ein
                Soldat, der an den in einer Schlacht erhaltenen Wunden gestorben zu
                seyn schien, und erst am zwölften Tage nachher, als nebst den andern

                Gefallenen ihm die letzte Ehre durch Verbrennung auf dem
                Scheiterhaufen angethan werden sollte, auf einmal sein Leben wieder
                bekam, oder wieder zu sich selbst kam, und, was er in den zwischen
                seinem ersten und zweiten Leben verflossenen Tagen gethan oder
                gesehen hatte, gleichsam ein öffentliches Zeugniß ablegend, den
                Menschen bekannt machte. Ob nun gleich Cicero bedauert, daß diese
                Dichtung von Unkundigen (als ob er wüßte, wie sich die Sache wirklich
                verhalte) verspottet worden sey, wich er dennoch dem abgeschmackten

                Tadel, der nun eben einmal wirklich vorgekommen war, dadurch aus,
                daß er Den, der [jene Geheimnisse] erzählen sollte,. anstatt vom Tode,
                nur vom Schlafe, aufwachen ließ          473  Macrob.]

                     7. [Bevor wir nun die Worte des Traumes selbst vernehmen, müssen
                wir erst auseinander setzen, von welcher Art von Menschen Tullius
                angibt, daß Plato's Dichtung verspottet worden sey, oder er nicht fürchte,
                es möchte ihm Dasselbe widerfahren. Denn er will damit nicht auf den
                unwissenden Pöbel deuten, sondern auf eine Menschengattung, die die
                Wahrheit nicht erkenne, während sie sich mit Einsicht brüste, von denen
                bekannt sey, daß sie dergleichen gelesen, aber eine besondere Neigung

                zum Tadeln an sich haben. Wir wollen also angeben, Wer, nach ihm,
                einen so leichtsinnigen Tadel gegen einen so großen Philosophen
                ausgesprochen, und Wer von Jenen seine Beschuldigung sogar schriftlich
                hinterlassen hat u. s. w. Die ganze Partei des Epicurus, die sich immer
                auf gleichem Abwege irrend von der Wahrheit entfernt hält, und sich
                über Das mit Spott auslassen zu müssen glaubt, was sie nicht versteht,

                hat die heilige Schrift und die erhabensten und ernstesten [Geheimnisse
                oder Aussprüche] der Natur verspottet. Kolotes aber, der unter den
                Schülern des Epikurus besonders berüchtigt, und durch Geschwätzigkeit




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