Page 59 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 59

entstanden die Gerechtigkeit sei. Sie behaupten nemlich, von Natur aus
                sei das Unrechtthun ein Gut, das Unrechterleiden aber ein Uebel, dabei
                aber überwiege an der Menge des Uebels das Unrechtleiden noch weit

                über die Menge des Guten beim Unrechtthun, und nachdem nun die
                Menschen wechselseitig Unrecht thun und Unrecht erleiden und beides
                zu kosten bekommen, so scheine es folglich denjenigen, welche nicht
                fähig sind, dem einen hievon zu entgehen und das andere zu wählen,
                gewinnbringend, gegenseitig einen Vertrag zu machen, daß man weder
                Unrecht thun, noch Unrecht erleiden solle. Und von da an denn nun habe
                man begonnen, Gesetze und wechselseitige Verträge aufzustellen, und

                man habe das von dem Gesetze Gebotene sowohl ein Gesetzmäßiges, als
                auch ein Gerechtes genannt. Und dieß demnach sei die Entstehung und
                das Wesen der Gerechtigkeit, daß sie ein Mittleres sei zwischen jenem
                besten Falle, in welchem der Unrechtthuende straflos wäre, und jenem
                schlimmsten, in welchem der Unrechterleidende sich nicht rächen
                könnte; das Gerechte aber werde als ein Mittelding zwischen diesen

                beiden gerne gewünscht, nicht etwa weil es ein Gut sei, sondern weil
                man es wegen der Unfähigkeit des Unrechtthuns schätze, denn derjenige,
                welcher die Fähigkeit habe, Unrecht auszuüben und in Wahrheit ein
                Mann sei, werde niemals mit irgend Jemanden jenen Vertrag eingehen,
                weder Unrecht zu thun, noch Unrecht zu erleiden, denn wahnsinnig wäre
                es ja dann. Die Natur nun also der Gerechtigkeit, o Sokrates, ist diese
                und eine derartige, und die natürliche Quelle ihres Entstehens eben eine

                derartige, wie nemlich die Leute sagen.
                     3. Daß aber auch diejenigen, welche das Gerechte betreiben, nur aus
                Unfähigkeit des Unrechtthuns es unfreiwillig betreiben, möchten wir
                wohl am ehesten bemerken, wenn wir in Gedanken Folgendes
                veranstalten würden: wir würden nemlich jedem von beiden, sowohl dem
                Gerechten, als auch dem Ungerechten, volle Freiheit verleihen, zu thun,

                was jeder wolle, und dann würden wir ihnen zuschauend folgen, wohin
                jeden von Beiden die Begierde führen werde. Auf frischer That nun
                würden wir wohl den Gerechten ertappen, daß er den nemlichen Weg
                wie der Ungerechte in Folge der Unersättlichkeit gehe, denn dieß ist es,
                was als ein Gut jedwede Natur an sich zu verfolgen bestimmt ist, nur
                aber durch Gesetz und Gewalt wird jede zur Beachtung des Gleichmaßes
                hingelenkt. Es möchte aber wohl jene volle Freiheit, von welcher ich

                spreche, zumeist eine derartige sein, wenn ihnen jene Fähigkeit
                erwüchse, von welcher man sagt, daß sie einstens dem Sohne des Gyges,
                dem Vorfahren des LyderkönigesWer will es dem Plato oder jener
                historischen Mythe, aus welcher dieser schöpfte, verwehren, wenn hier





                                                           58
   54   55   56   57   58   59   60   61   62   63   64