Page 61 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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gegen sich zu in das Innere der Hand gekehrt; sobald aber dieß
geschehen, sei er den neben ihm Sitzenden unsichtbar geworden, und
dieselben hätten über ihn wie über einen Weggegangenen gesprochen.
Und jener nun habe sich hierüber gewundert, und indem er verstohlens
den Ring berührte, den Stein desselben wieder nach Außen gedreht, und
er sei, sobald er ihn gedreht, wieder sichtbar geworden. Und als er dieß
bemerkt hatte, habe er den Ring auf die Probe gestellt, ob derselbe
wirklich diese Kraft habe, und stets sei es ihm so von Statten gegangen,
daß er bei dem Einwärtsdrehen des Steines unsichtbar, beim
Auswärtsdrehen aber sichtbar wurde. Sobald er aber dieß
wahrgenommen, habe er sogleich es veranstaltet, daß er einer der
königlichen Boten wurde; als er aber dorthin gekommen sei, habe er die
Gemahlin des Königes zum Ehebruche verführt und in
gemeinschaftlicher List mit jener den König getödtet und so die
Herrschaft erlangt. Wenn es also nun zwei derartige Ringe gäbe, und den
einen der Gerechte sich ansteckte, den anderen aber der Ungerechte, so
dürfte wohl, wie es scheint, es keinen Einzigen geben, welcher so
felsenfest wäre, um innerhalb der Gerechtigkeit zu verbleiben und es
über sich zu gewinnen, von fremdem Gute sich zu enthalten und es nicht
zu berühren, während er die Freiheit hat, sowohl auf dem öffentlichen
Markt ungescheut, was ihm beliebt, wegzunehmen, als auch in die
Häuser zu gehen und Beischlaf zu üben, mit wem es ihm beliebt, und zu
tödten und aus dem Gefängnisse zu befreien, wen es ihm beliebt, und
alles Uebrige zu vollführen, als ein den Göttern gleicher unter den
Menschen. Indem er aber so handelte, würde er nichts Verschiedenes von
jenem thun, was auch der anderweitige thut, sondern beide würden den
nemlichen Weg gehen; und man möchte wohl sagen, daß dieß ein
bedeutendes Kennzeichen dafür sei, daß Keiner freiwillig gerecht sei,
sondern Jeder nur gezwungen, weil jenes für den Einzelnen eben nicht
ein Gut sei, denn wo ein Jeder glaubt, im Stand zu sein, Unrecht zu thun,
da thut er Unrecht; jeder Mann nemlich glaubt, daß für ihn als Einzelnen
weit mehr die Ungerechtigkeit als die Gerechtigkeit gewinnbringend sei,
und er meint dieß mit Recht, wie jeder sagt, welcher über die derartige
Begründung spricht, denn woferne Jemand eine derartige volle Freiheit
erlangt hätte und dann doch keinerlei Unrecht thun und fremdes Gut
nicht berühren wollte, würde er denjenigen, welche dieß wahrnähmen,
der unglücklichste und unverständigste Mensch zu sein scheinen, loben
aber würden sie ihn allerdings gegenseitig einander in’s Gesicht, indem
sie sich aus Furcht, Unrecht zu erleiden, gegenseitig einander belügen
würden. Dieß also denn nun verhält sich in dieser Weise.
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