Page 62 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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4. Die Beurtheilung selbst aber des Lebens derjenigen, über welche
                wir sprechen, werden wir wohl richtig vorzunehmen im Stande sein,
                wenn wir den Gerechtesten und den Ungerechtesten auseinander halten,

                nicht hingegen, wenn wir jenes nicht thun. Wie also wollen wir sie
                auseinander halten? Folgendermaßen: wir wollen Nichts hinwegnehmen
                bei dem Ungerechten von der Ungerechtigkeit, und Nichts bei dem
                Gerechten von der Gerechtigkeit, sondern jeden von beiden bezüglich
                seines Bestrebens als einen vollendeten hinstellen. Erstens also der
                Ungerechte soll es machen wie die gewandten Werkmeister, wie nemlich
                ein hervorragender Steuermann oder Arzt sowohl das Unmögliche, als

                auch das Mögliche in seiner Kunst wohl auseinander kennt, und das eine
                hievon versucht, das andere aber unterläßt, und ferner auch, wenn er
                irgendwo fehlgegriffen, tüchtig genug ist, es wieder gut zu machen,
                ebenso bleibe auch der Ungerechte, wenn er richtige Versuche zum
                Unrechtthun macht, dabei unentdeckt, woferne es in hohem Grade
                ungerecht sein soll; jenen hingegen, welcher sich ertappen läßt, muß man

                für einen Verächtlichen halten, denn die äußerste Ungerechtigkeit ist
                eben, gerecht zu sein scheinen, während man es nicht ist. Verleihen also
                müssen wir dem in vollendeter Weise Ungerechten auch die vollendetste
                Ungerechtigkeit, und nicht dürfen wir etwas hinwegnehmen, sondern wir
                müssen es zulassen, daß er, während er das größte Unrecht verübt, die
                höchste öffentliche Meinung bezüglich seiner Gerechtigkeit sich
                verschafft habe, und, falls er in irgend Etwas fehlgegriffen, die Fähigkeit

                hat, es wieder gut zu machen, indem er tüchtig genug ist sowohl im
                Reden bezüglich des Ueberzeugens, falls eine seiner unrechten Thaten
                zur Anzeige gebracht wurde, als auch im Anwenden der Gewalt, wo es
                Gewalt bedarf, sei es durch Tapferkeit und Stärke, oder sei es durch
                Bereithalten von Freunden und von Geld. Nachdem wir aber diesen als
                einen derartigen aufgestellt haben, wollen wir in unserer Rede den

                Gerechten neben ihn stellen, als einen schlichten und edlen Mann,
                welcher nach des Aeschylos WortSieben gegen Theben, V. 577 ff.,
                nemlich die zwei nächsten Verse führt Plato sogleich unten selbst an.
                »nicht gut scheinen, sondern gut sein will«. Hinwegnehmen demnach
                müssen wir von ihm das bloße Scheinen; denn woferne er gerecht zu sein
                scheinen würde, kämen ihm Ehren und Geschenke zu, weil er eben
                derartig zu sein schiene; ungewiß also wäre es, ob er um des Gerechten

                willen oder um der Geschenke und Ehren willen ein derartiger sei. Zu
                entblößen demnach ist er von Allem mit Ausnahme der Gerechtigkeit
                selbst, und gerade in dem entgegengesetzten Verhalten gegen den
                Vorigen ist er darzustellen. Nemlich er habe, während er kein Unrecht





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