Page 60 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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jener bekannte Besitzer des unsichtbar machenden Ringes nicht Gyges
                selbst, sondern der Sohn eines Gyges heißt (wornach wahrscheinlich
                jener Leichnam in der Höhle kein anderer, als eben der seines Vaters

                war); denn die von Plato abweichende Erzählung bei Herodot (I, 8) wird
                man doch hoffentlich nicht zum Maßstabe nehmen wollen; alle übrigen
                späteren Berichte aber schöpfen entweder aus Plato oder aus Herodot.
                Letzterer nun erzählt die Sache folgendermaßen: der lydische König
                Kandaules hatte eine ausnehmend schöne Frau, und er glaubte seinen
                Vertrauten, welcher Gyges hieß, nur dadurch von der Schönheit
                derselben überzeugen zu können, daß er ihm Gelegenheit gab, sie in

                ihrem Schlafgemache entkleidet zu sehen; die Frau jedoch, welche den
                Neugierigen ertappte, ließ demselben nur die Wahl, entweder zu sterben
                oder den Kandaules zu tödten und als ihr Gemahl König von Lydien zu
                werden. Gyges entschied sich für letzteres und bestieg nach Ermordung
                des Kandaules den Thron von Lydien und ward Gründer jener Dynastie,
                deren letzter König Krösus war (dieser letztere ist auch hier unter der

                Bezeichnung der »Lyderkönig« gemeint. Wer aber irgend historischen
                Sinn hat, sieht hiemit ein, daß bei Plato und Herodot entweder zwei
                völlig verschiedene Erzählungen vorliegen, oder daß die platonische
                ältere, welche wahrhaft mythisch ist, in den von Herodot benützten
                Quellen bereits eine Umsetzung in die Form sogenannter Geschichte
                erfahren hatte. Liegt aber auf diese Weise ein verschiedenartiger Stoff
                den beiden Berichterstattern zu Grunde, so fällt jede Nothwendigkeit

                hinweg, den Text der platonischen Worte so zu ändern, daß er mit
                Herodot übereinstimmt. – Uebrigens unten, X, 12, kömmt Plato wieder
                auf diesen Gyges-Ring zurück. erwachsen sei. Es sei nemlich derselbe
                als Hirt bei dem damaligen Herrscher von Lydien in Dienst gewesen, und
                in Folge eines heftigen Platzregens und Erdbebens habe sich die Erde
                gespalten und eine Schlucht sei an dem Orte, wo jener eben weidete,

                entstanden. Derselbe habe dieß gesehen, und voll Erstaunen sei er
                hinabgestiegen und habe dort sowohl viel anderes Wunderbare, von
                welchem die Sage erzählt, gesehen, als auch ein hohles ehernes Pferd mit
                Flügelthüren, durch welche er hineingeschlüpft sei und dann darinnen
                einen, wie es schien, mehr als mannesgroßen Leichnam erblickt habe;
                dieser aber habe nichts Weiteres an sich gehabt, als nur an der Hand
                einen goldenen Ring, welchen jener abgezogen und dann sich wieder

                entfernt habe. Als aber die gewöhnliche Zusammenkunft der Hirten, um
                dem Könige den monatlichen Bericht betreffs der Heerden zu melden,
                stattfand, sei auch jener mit seinem Ringe gekommen. Und wie er nun
                mit den Uebrigen dasaß, habe er eben zufällig den Stein des Ringes





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