Page 69 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Aber, o lieber Freund, wird jener fortschließend sagen, die Weihe-
Sühnungen vermögen ja hinwiederum gar viel und auch die erlösenden
Götter, wie uns dieß die größten Staaten und auch jene Söhne der Götter
berichten, welche Dichter und Verkündiger der Götter wurden, und
welche ja kundgeben, daß dieß sich so verhalte.
9. Welch andere Begründung also gibt es noch, nach welcher wir der
Gerechtigkeit den Vorzug vor der höchsten Ungerechtigkeit geben
sollten? Denn wenn wir letztere in Verbindung mit einer verfälschten
Güte der äußeren Form erwerben, wird es uns sowohl bei den Göttern,
als auch bei den Menschen im Leben und nach dem Tode unserer
Absicht gemäß ergehen, wie nemlich die Begründung lautet, welche
sowohl von der Menge, als auch von den Hervorragenden ausgesprochen
wird. Welchen möglichen Ausweg also, o Sokrates, gibt es in Folge von
all diesem Gesagten, daß irgend Jemand noch den Willen habe, die
Gerechtigkeit zu ehren, wer nemlich eine bedeutende Macht seiner
Seele, oder seines Vermögens, oder seines Körpers, oder seiner Familie
besitzt, und daß ein Solcher nicht lache, wenn er die Gerechtigkeit loben
hört. Denn falls ja auch Jemand das von uns Gesagte als falsch
nachweisen kann und genügend einsieht, daß das Beste Gerechtigkeit
sei, so hat er jedenfalls doch große Nachsicht gegen die Ungerechten und
zürnt ihnen sicher nicht, sondern ist sich dessen bewußt, daß mit der
einzigen Ausnahme, wenn Jemand vermöge einer göttlichen Begabung
das Unrechtthun verschmäht, oder in Folge eines erfaßten Wissens sich
von demselben enthält, von allen Uebrigen ja kein Einziger freiwillig
gerecht ist, sondern nur in Folge einer Feigheit, oder seines hohen Alters,
oder irgend einer anderen Schwäche das Unrechtthun tadelt, weil er
selbst unfähig ist, es zu verüben; daß dem aber so sei, ist klar, denn der
erste Beste unter den derartigen ist, sobald er die Fähigkeit erlangt hat,
gleich der Erste, welcher Unrecht thut, so viel er nur im Stande ist.
Und von all diesem ist nichts Anderes die Ursache, als eben jenes,
wovon diese gesammte Begründung sowohl für Diesen da, als auch für
mich selbst ausging, nemlich daß wir zu dir, o Sokrates, sagen müssen:
Von euch Allen, du Wunderlicher, die ihr behauptet Lobredner der
Gerechtigkeit zu sein, angefangen von jenen ersten ursprünglichen
Helden an, deren Worte noch bis zu den jetzigen Menschen übrig
geblieben sind, hat noch kein Einziger jemals die Ungerechtigkeit in
anderer Weise getadelt oder die Gerechtigkeit in anderer Weise gelobt,
als daß er eben die aus jenen erwachsende öffentliche Meinung und
Ehren und Geschenke lobte. Was hingegen jedes von jenen beiden an
sich betrifft, wie es vermöge der ihm eigenen Geltung in der Seele
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