Page 70 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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dessen, der es hat, sich findet und vor Göttern und Menschen unbemerkt
ist, so hat noch Keiner jemals weder in dichterischer, noch in
gewöhnlicher Rede auf eine für die Begründung genügende Weise es
durchgegangen, daß das Eine das größte Uebel von allen sei, welche die
Seele in sich hat, die Gerechtigkeit aber das größte Gut sei. Denn wenn
es in dieser Weise von Anfang an von euch Allen gesagt worden wäre
und ihr so von Jugend auf uns überzeugt hättet, so würden wir uns nicht
gegenseitig voreinander wegen des Unrechtthuns hüten, sondern jeder
Einzelne wäre für sich selbst der beste Wächter, weil er fürchten würde,
durch Unrechtthun mit dem größten Uebel verflochten zu sein. Dieß, o
Sokrates, und vielleicht auch noch mehr als dieß, möchte sowohl
Thrasymachos, als auch wohl mancher Andere betreffs der Gerechtigkeit
und Ungerechtigkeit sprechen, indem sie hiebei, wie mir wenigstens
scheint, ziemlich plump die Geltung jener beiden Begriffe verdrehen
würden. Aber ich nun habe, – denn ich wünsche dir Nichts zu verhehlen
–, nur aus Begierde, von dir das Gegentheil zu hören, nach allen Kräften
meiner Rede den Lauf gelassen. Weise uns also in deiner Begründung
nach, nicht bloß daß die Gerechtigkeit besser sei, als die
Ungerechtigkeit, sondern was jede von beiden selbst an und für sich in
demjenigen, der sie hat, bewirke, und hiedurch die eine ein Uebel und
die andere ein Gut sei. Die öffentliche Meinung aber laß hiebei weg, wie
schon Glaukon verlangt hat; denn wenn du nicht von beiden Seiten die
wahre weglässest und die falsche hinzufügstd. h. der Gerechte darf nicht
als ein Mann geschildert werden, welcher für gerecht gehalten wird
(denn dann könnte ja auch diese öffentliche Geltung das Motiv seiner
Trefflichkeit sein), sondern gerade als ein Mann, welcher verkannt wird
(denn nur dann ist seine Gerechtigkeit rein und uneigennützig); und
ebenso darf der Ungerechte nicht als ein Mann geschildert werden,
welcher für ungerecht gehalten wird (denn dann fehlt es ihm noch immer
an der nöthigen Schlauheit), sondern gerade als ein Mann, welcher
gepriesen wird (denn dieß zu bewirken, ist die vollendete
Schlechtigkeit)., so werden wir noch immer nicht sagen, daß du das
Gerechte lobest, sondern eben nur den Schein desselben, und auch nicht
sagen, daß du das Ungerechte tadelst, sondern eben nur den Schein
desselben, und wir werden sagen, daß du hiemit den Rath ertheilest,
beim Unrechtthun unentdeckt zu bleiben, und daß du mit Thrasymachos
darin übereinstimmest, daß das Gerechte ein fremdes Gut, nemlich nur
das dem Stärkeren Zuträgliche, sei, das Ungerechte aber eben für jenen
selbst das Zuträgliche und Gewinnbringende, hingegen für den
Schwächeren ein nicht Zuträgliches sei. Nachdem du also zugegeben
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