Page 714 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Abdankung s. Lebenslauf, 1512. Er war einzig die Folge davon, daß in
                der Republik keine Anklage gegen den Ehrgeiz mächtiger Bürger
                möglich ist; denn es genügt in einer Republik nicht, einen Mächtigen vor

                acht Richtern anzuklagen. Es müssen viele Richter sein, denn Wenige
                werden es stets mit den Wenigen halten. Hätte eine solche Einrichtung
                bestanden, so hätten ihn die Bürger, wenn sein Betragen schlecht war,
                angeklagt und dadurch ihrem Groll Luft gemacht, ohne das spanische
                Heer herbeizurufen. Tat er aber nichts Übles, so hätten sie nichts gegen
                ihn zu unternehmen gewagt, um nicht selbst angeklagt zu werden. In
                beiden Fällen wäre die Leidenschaft verraucht, die so große

                Umwälzungen herbeiführte.
                     Man kann also auf die schlechte Verfassung eines Staates schließen,
                wenn eine fremde Macht von einem Teil der Einwohner herbeigerufen
                wird; denn dann fehlt eine Einrichtung, die den gehässigen
                Leidenschaften der Bürger ohne gewaltsame Mittel Luft macht.
                Vollständig gesorgt ist dafür nur, wenn man Anklagen vor vielen

                Richtern anordnet und diesen gehöriges Ansehen verleiht. Diese
                Einrichtung war in Rom so gut getroffen, daß bei den zahlreichen
                Zwistigkeiten zwischen Volk und Senat weder der Senat noch das Volk,
                noch irgendein einzelner jemals darauf verfiel, fremde Hilfe
                herbeizurufen. Eine Ausnahme bildet gerade der von Machiavelli
                herangezogene Coriolan, der nach seiner Verbannung an der Spitze der
                Volsker gegen Rom zog. Vgl. Buch III, Kap. 13. Man hatte das Mittel zu

                Hause und brauchte es nicht auswärts zu suchen.
                     Die genannten Beispiele reichen zwar zum Beweis hin, ich will aber
                noch ein andres aus Livius' Geschichte V, 33. anführen. In Clusium,
                einer der ersten Städte Etruriens, hatte ein Lukumone die Schwester des
                Aruns geschändet. Da Aruns sich wegen der Macht des Beleidigers nicht
                rächen konnte, ging er zu den Galliern, die damals in der heutigen

                Lombardei wohnten, und beredete sie, mit bewaffneter Macht nach
                Clusium zu kommen und die ihm angetane Schmach zu ihrem eignen
                Vorteil zu rächen. Hätte Aruns die Möglichkeit gehabt, sich durch die
                Einrichtungen seiner Vaterstadt Recht zu verschaffen, so hätte er nicht
                das Heer der Barbaren herbeigezogen. So nützlich aber die Anklagen in
                einer Republik sind, so unnütz und schädlich sind die Verleumdungen,
                wie im folgenden Kapitel gezeigt wird.














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