Page 718 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Neuntes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Wer einen Staat gründen oder seine alten Einrichtungen völlig
umgestalten will, muß allein stehen.
Es scheint manchem vielleicht, daß ich in der römischen Geschichte
zuviel übergehe, da ich noch nichts über die Gesetzgeber der Republik,
ihre militärischen und religiösen Einrichtungen gesagt habe. Ich will aber
die Erwartung derer, die etwas darüber hören wollen, nicht länger
spannen. Viele werden es vielleicht für ein schlechtes Vorbild halten, daß
der Gründer eines Gemeinwesens wie Romulus erst seinen Bruder
erschlug und dann in die Ermordung des Sabinerkönigs Titus Tatius
willigte, den er zum Mitregenten erwählt hatte. Seine Mitbürger, möchte
man glauben, konnten sich ihren Fürsten zum Muster nehmen und sich
aus Ehrgeiz und Herrschsucht an jedem vergreifen, der sich ihren Plänen
widersetzte. Dieser Einwand träfe zu, wenn man nicht berücksichtigte, in
welcher Absicht Romulus jene Morde beging.
Es ist eine allgemeine Regel, daß eine Republik oder ein Königreich
niemals oder nur selten von Anfang an gut eingerichtet oder vollkommen
neu gestaltet wird, wenn es nicht durch einen einzigen geschieht, der den
Plan angibt und aus dessen Geist alle Anordnungen hervorgehen.
Deshalb muß ein weiser Gesetzgeber einer Republik, der nicht sich,
sondern dem Allgemeinwohl, nicht seinen eignen Nachkommen, sondern
dem gemeinsamen Vaterland nützen will, nach der unumschränkten
Gewalt streben. Kein vernünftiger Mensch wird ihn wegen einer
außerordentlichen Handlung tadeln, die er zur Gründung eines Reiches
oder zur Einrichtung einer Republik ausführt. Spricht die Tat gegen ihn,
so muß der Erfolg ihn entschuldigen, und ist dieser gut, wie bei
Romulus, so wird er ihn immer entschuldigen. Tadel verdient nicht, wer
Gewalt braucht, um aufzubauen, sondern um zu zerstören. Freilich muß
er so klug und so tugendhaft sein, daß er die Gewalt, die er an sich
gerissen hat, nicht an einen andern vererbt. Denn da die Menschen mehr
zum Bösen als zum Guten neigen, könnte sein Nachfolger die Macht, die
er zum Guten gebraucht hat, zu seinem Ehrgeiz mißbrauchen. Mag
überdies ein Mann auch geeignet sein, eine Verfassung zu geben, so ist
diese doch nicht von langer Dauer, wenn sie auf den Schultern eines
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