Page 82 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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16. Scheint dir also wohl auch noch Folgendes der künftige Wächter
zu bedürfen, daß er außer der muthigen auch eine weisheitsliebende
Begabung erhalte? – Wie so? sagte er; denn ich verstehe dieß noch nicht.
– Auch dieß, erwiederte ich, wirst du an den Hunden erblicken, was noch
dazu bei einem Thiere bewunderungswürdig ist. – Nemlich was? – daß
er demjenigen, welchen er als einen Unbekannten sieht, gefährlich ist,
obwohl er vorher nichts Schlimmes von ihm erfahren hat; jenen aber,
welchen er als einen Bekannten sieht, liebkost er, auch wenn er niemals
von ihm irgend etwas Gutes erfahren hat; oder hast du dich darüber noch
nie gewundert? – Ich habe, sagte er, eben nicht so weit meine
Aufmerksamkeit erstreckt; aber daß er solches thut, ist wohl klar. – Nun
aber zeigt sich ja dieser Vorgang in der Begabung desselben als ein gar
Feines und in Wahrheit als ein Weisheitsliebendes. – Wie so denn? –
Insoferne er, sagte ich, Freundes-und Feindes-Anblick nach nichts
Anderem unterscheidet als darnach, daß er den einen kennen lernte und
den anderen nicht kennt. Und doch wie sollte Etwas nicht ein
Lernbegieriges sein, was die Gränze zwischen Angehörigem und
Fremdem eben nur nach dem Kennen und Nichtkennen zieht? –
Jedenfalls, sagte er, ist es ein Lernbegieriges. – Nun aber, sprach ich, ist
doch das Lernbegierige und das Weisheitsliebende das Nemliche? – Ja
wohl, das Nemliche, sagte er. – Nicht wahr also, auch bei dem Menschen
werden wir getrost die Behauptung aufstellen, daß er, woferne er gegen
seine eigenen Leute und gegen die Bekannten sanft sein soll,
weisheitsliebend und lernbegierig sein muß? – Ja, wir wollen sie
aufstellen, sagte er. – Weisheitsliebend demnach und muthig und behend
und stark wird uns bezüglich seiner Begabung derjenige sein, welcher
dereinst ein trefflicher und tüchtiger Wächter eines Staates sein soll. – Ja
wohl, völlig so, sagte er. – Dieser also nun möge uns hiemit auf diese
Weise gefunden sein; aber auf welche Weise denn nun werden uns diese
aufgenährt und herangebildet werden? Und wird also auch, wenn wir
dieß erwägen, es uns förderlich sein zur Einsicht in jenes, um dessen
willen wir Alles erwägen, nemlich auf welche Weise Gerechtigkeit und
Ungerechtigkeit in einem Staate entstehe? damit wir nicht etwa eine
zulängliche Begründung übergehen oder andrerseits zu Vieles
durchgehen. – Und der Bruder des Glaukon sagte: Allerdings wohl
erwarte ich, daß jene Erwägung zu diesem förderlich sein werde. – Nicht
also, bei Gott, o Adeimantos, sagte ich, dürfen wir ablassen, auch dann
nicht, wenn die Erwägung eine ziemlich lange sein sollte. – Nein,
allerdings nicht. – Wohlan also, gleichsam wie in einer Dichtung Fabeln
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