Page 912 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Das neuste und in jeder Beziehung merkwürdigste Beispiel aber, das
                am besten die Nutzlosigkeit der Festungen und die Nützlichkeit ihrer
                Schleifung beweist, ist das von Genua. Bekanntlich empörte sich Genua

                1507 gegen König Ludwig XII. von Frankreich, der in eigner Person an
                der Spitze seiner gesamten Heeresmacht anrückte, um es wieder zu
                erobern. Nach der Einnahme erbaute er die stärkste aller Festungen, die
                man bis jetzt kennt, denn sie war durch Lage und alle sonstigen
                Einrichtungen uneinnehmbar. Auf dem Gipfel eines ins Meer
                vorspringenden Hügels angelegt, den die Genueser Codefa nannten,
                bestrich sie den ganzen Hafen und einen großen Teil der Stadt. Als 1512

                die Franzosen aus Italien verjagt wurden, empörte sich Genua trotz der
                Festung, und Ottaviano Fregoso, der die Regierung übernahm, zwang sie
                nach sechzehnmonatiger mühevoller Belagerung durch Hunger zur
                Übergabe. Jedermann glaubte nun, und viele rieten ihm, daß er sich diese
                Festung als Zufluchtsort für den Notfall erhalte, aber als kluger Mann
                sah er ein, daß nicht die Festungen, sondern der Wille des Volkes die

                Fürsten im Besitz ihrer Herrschaft erhält, und er schleifte sie. So hat er
                seine Herrschaft nicht auf die Festung, sondern auf seine Tapferkeit und
                Klugheit begründet und behauptet sie noch. Während früher 1000 Mann
                Fußvolk genügten, um eine Staatsumwälzung in Genua hervorzurufen,
                griffen ihn seine Feinde mit 10 000 Mann an und konnten ihm nichts
                anhaben. Man ersieht daraus, daß die Schleifung der Festung dem
                Ottaviano nichts schadete und daß ihre Erbauung den König von

                Frankreich nicht schützte. Denn wenn er mit einem Heer nach Italien
                kommen konnte, nahm er Genua wieder ein, ohne eine Festung darin zu
                haben, konnte er aber mit keinem Heer herbeikommen, so konnte er auch
                Genua nicht halten, obwohl er im Besitz der Festung war. Ihre Anlage
                war also für den König kostspielig und ihr Verlust schimpflich, für
                Ottaviano aber ihre Eroberung ruhmvoll und ihre Schleifung nützlich.

                     Kommen wir jedoch zu den Republiken, die Festungen anlegen, und
                zwar nicht in der Hauptstadt, sondern in den eroberten Städten. Sollte
                das angeführte Beispiel von Frankreich und Genua nicht genügen, so
                dürfte doch das Beispiel von Florenz und Pisa hinreichen, um die
                Zwecklosigkeit der Festungen nachzuweisen. Um Pisa im Zaum zu
                halten, legten die Florentiner Festungen an und sahen nicht ein, daß man
                zur Behauptung einer Stadt, die Florenz stets feindlich gesinnt war, stets

                in Freiheit gelebt und sich stets empört hatte, um die Freiheit
                wiederzuerlangen, das Verfahren der Römer nachahmen und sie
                entweder zur Bundesgenossin machen oder zerstören mußte. Der Wert
                der Festungen zeigte sich beim Einfall Karls VIII. (1494), dem sie sich





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