Page 919 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 919
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Kluge Fürsten und Republiken müssen sich mit dem Siege
begnügen; denn man verliert meistens, wenn man sich nicht
begnügt.
Entehrende Worte gegen den Feind rühren meist vom Übermut her, den
der Sieg oder die falsche Siegeshoffnung erzeugt. Diese falsche
Hoffnung verleitet die Menschen nicht nur im Reden, sondern auch im
Handeln zu Fehlern. Denn bemächtigt sie sich des Menschen, so vergißt
er Maß und Ziel und versäumt meist die Gelegenheit, ein sichres Gut
über der Hoffnung auf ein unsichres Besseres zu erreichen. Dieser Punkt
verdient Beachtung, da sich die Menschen sehr häufig zum Nachteil
ihrer Sache täuschen. Es scheint mir daher der Mühe wert, ihn durch alte
und neue Beispiele ausführlich zu erläutern, weil man es durch Gründe
nicht so deutlich vermag.
Nach der Niederlage der Römer bei Cannae schickte Hannibal
Gesandte nach Karthago, um den Sieg zu melden und Verstärkung zu
fordern. Livius XXIII, 11 ff. Im Senat stritt man darüber, was zu tun sei.
Hanno, ein alter, kluger karthagischer Bürger, riet, den Sieg weislich
zum Friedensschluß mit den Römern zu benutzen, da man als Sieger
ehrenvolle Bedingungen erlangen könne. Man solle nicht so lange
warten, bis man nach einer Niederlage zum Frieden gezwungen sei. Die
Karthager müßten nur darauf bedacht sein, den Römern zu zeigen, daß
sie imstande seien, ihnen die Spitze zu bieten. Da sie jetzt gesiegt hätten,
dürften sie diesen Sieg nicht in der Hoffnung auf größere Siege aufs
Spiel setzen. Sein Rat wurde nicht befolgt, aber später, als die
Gelegenheit verpaßt war, erkannte ihn der karthagische Senat als weise.
Als Alexander der Große fast den ganzen Orient erobert hatte,
schickte die Republik Tyrus, damals berühmt und mächtig, weil die
Stadt, wie Venedig, im Meere lag, in Anbetracht seiner Größe Gesandte
an ihn, mit dem Erbieten, ihm treu zu dienen und ihm in allem Gehorsam
zu leisten, nur wollte sie weder ihn noch seine Truppen in die Stadt
aufnehmen. Entrüstet, daß ihm eine Stadt ihre Tore verschließen wollte,
wo ihm die ganze Welt die ihren geöffnet hatte, wies Alexander die
Gesandten mit ihren Bedingungen ab und belagerte Tyrus. Es lag mitten
918