Page 924 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Neunundzwanzigstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Das Schicksal verblendet die Menschen, damit sie sich seinen
Absichten nicht widersetzen.
Wer den Lauf der Welt genau betrachtet, wird oft Dinge kommen und
Ereignisse eintreten sehen, denen der Himmel durchaus nicht vorgebeugt
haben will. Wenn das aber in Rom geschah, wo soviel Tapferkeit,
Religion und Ordnung herrschte, so ist es kein Wunder, wenn es noch
viel häufiger in einer Stadt oder in einem Lande vorkommt, wo diese
Vorzüge fehlen. Weil sich hier nun eine denkwürdige Gelegenheit bietet,
die Macht des Himmels über alle menschlichen Dinge zu beweisen, so
hat es Livius ausführlich und mit den eindringlichsten Worten getan. V,
37. Da der Himmel, sagt er, den Römern zu irgendeinem Zweck seine
Macht offenbaren wollte, ließ er zuerst die Fabier, die als Gesandte zu
den Galliern gingen, einen Fehler begehen und sie durch ihr Benehmen
jenes Volk zum Krieg gegen Rom reizen. Dann fügte er es, daß zur
Abwendung dieses Krieges nichts geschah, was des römischen Volkes
würdig gewesen wäre, denn zunächst ließ er den Camillus, den einzigen
Retter in so großer Not, nach Ardea in die Verbannung schicken, und
dann, als die Gallier auf Rom rückten, ließ er dieselben Römer, die zur
Abwehr der Volsker und andrer feindlicher Nachbarn so oft einen
Diktator ernannt hatten, dies beim Angriff der Gallier unterlassen. Selbst
die Aushebung der Soldaten fand nur in geringem Umfang und ohne
besondere Sorgfalt statt. Ja, sie griffen so lässig zu den Waffen, daß das
Heer den Galliern kaum bis zur Allia, zehn Miglien von Rom,
entgegenrückte. Hier schlugen die Tribunen ihr Lager ohne jede
gewohnte Vorsichtsmaßregel auf, denn sie suchten vorher nicht den Ort
aus, umgaben es nicht mit Gräben und Pfahlwerk und benutzten kein
menschliches noch göttliches Hilfsmittel. Bei der Aufstellung in
Schlachtordnung machten sie die Glieder schwach und dünn; kurz,
weder Soldaten noch Führer benahmen sich der römischen Kriegszucht
würdig. Darauf kämpften sie ohne Blutvergießen, denn sie flohen, ehe
sie angegriffen wurden, und der größte Teil lief nach Veji. Die übrigen
retteten sich nach Rom, wo sie, ohne ihre Häuser zu betreten, aufs
Kapitol eilten. Der Senat dachte nicht an die Verteidigung Roms, ließ
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