Page 925 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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nicht einmal die Tore schließen und ergriff teils die Flucht, teils eilte er
mit den andern aufs Kapitol. Nur bei der Verteidigung dieser Burg
benahmen sie sich nicht so überstürzt, denn sie überfüllten sie nicht mit
unnützen Leuten, schafften soviel Getreide wie möglich hinein, um eine
Belagerung aushalten zu können, und der unnütze Haufen der Greise,
Frauen und Kinder floh größtenteils in die umliegenden Ortschaften, der
Rest blieb in Rom und fiel den Galliern zur Beute. Wer die früheren
Taten dieses Volkes in so vielen Jahren gelesen hat und dann diese Tat
liest, wird kaum glauben, daß es ein und dasselbe Volk war. Nachdem
Titus Livius alle obigen Mißgriffe geschildert hat, schließt er mit den
Worten: Adeo obcaecat animos fortuna, cum vim suam ingruentem
refringi non vult. V, 37. (So verblendet das Schicksal die Geister,
wenn es nicht will, daß sein Hereinbrechen gehemmt wird.)
Nichts ist wahrer als dieser Schluß. Daher verdienen auch die
Menschen, die gewöhnlich im Glück oder Unglück leben, weniger Tadel
oder Lob. Denn meist wird man sehen, daß sie dadurch zu ihrer Größe
oder zu ihrem Sturz gelangten, daß ihnen der Himmel die Gelegenheit zu
einer trefflichen Tat schenkte oder nahm. Will das Schicksal etwas
Großes vollbringen, so wählt es einen Mann von so viel Geist und Mut
aus, daß er die Gelegenheiten, die es ihm bietet, erkennt. Ebenso stellt es,
wenn es große Umwälzungen vollbringen will, Männer an die Spitze, die
diesen Sturz befördern. Wäre ein Mann da, der ihm Einhalt tun könnte,
so tötet es ihn oder beraubt ihn jeder Möglichkeit, etwas Heilsames zu
tun. Das erkennt man aufs deutlichste an diesem Fall. Um Rom zu
erhöhen und zu seiner Größe zu führen, hielt das Schicksal es für nötig,
es zu demütigen, wie wir am Anfang des nächsten Buches ausführlich
zeigen werden, S. Buch III, Kap. 1. es aber nicht völlig untergehen zu
lassen. Es ließ daher den Camillus verbannen, aber nicht sterben, zwar
Rom, aber nicht das Kapitol erobern; es hinderte die Römer, zur
Verteidigung Roms einen guten Gedanken zu fassen, ließ sie aber zur
Verteidigung des Kapitols keine nützliche Maßregel versäumen. Damit
Rom erobert würde, fügte es, daß die Mehrzahl der an der Allia
Geschlagenen nach Veji floh; damit nahm es Rom alle
Verteidigungsmittel. Und während es dies alles tat, bereitete es zugleich
alles zur Wiedereroberung Roms vor, denn es hatte ein ganzes römisches
Heer nach Veji und Camillus nach Ardea geführt, damit es unter einem
Feldherrn, dessen Ruf nicht durch den Makel einer Niederlage befleckt
war, große Dinge vollbringen konnte.
Zur Bestätigung des Gesagten wäre noch manches neuere Beispiel
anzuführen, aber ich halte es für überflüssig, weil dies jedem genügen
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