Page 969 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Achtes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                    Wer eine Republik stürzen will, muß ihren Zustand in Betracht
                                                        ziehen.


                Es ist oben S. Buch I, Kap. 34. erörtert worden, daß ein schlechter
                Bürger in einer unverdorbenen Republik nichts Böses stiften kann.
                Dieser Satz wird außer den dort angeführten Gründen auch durch das
                Beispiel des Spurius Cassius und des Manlius Capitolinus bestätigt.

                     Spurius, ein ehrgeiziger Mann, wollte sich außergewöhnliches
                Ansehen in Rom anmaßen und sich das Volk durch viele Wohltaten
                gewinnen, z. B. durch den Verkauf der Ländereien, die die Römer den
                Hernikern abgenommen hatten. S. Buch I, Kap. 8. Der Senat
                durchschaute seinen Ehrgeiz und machte ihn so verdächtig, daß das Volk

                sein Anerbieten glatt ablehnte, den Erlös des Korns, das der Staat aus
                Sizilien hatte kommen lassen, an das Volk zu verteilen. Denn es hatte
                den Eindruck, daß Spurius ihm mit diesem Geld seine Freiheit abkaufen
                wollte. Wäre das Volk aber verderbt gewesen, so hätte es diesen Preis
                nicht ausgeschlagen und ihm den Weg zur Tyrannei eröffnet, den es ihm
                jetzt verschloß.
                     Noch viel treffender ist das Beispiel des Manlius Capitolinus. Denn

                man sieht daraus, wieviel Vorzüge des Geistes und Körpers, wie viele
                hohe Taten zum Besten des Vaterlandes durch zügellose Herrschsucht
                ausgelöscht werden. Diese Herrschsucht entstand bei ihm, wie gesagt,
                Das Ackergesetz des Spurius Cassius (486 v. Chr.). Vgl. Buch I, Kap. 37,
                Anm. 108, und Livius II, 41. durch den Neid auf die dem Camillus
                erwiesenen Ehren und verblendete seinen Geist derart, daß er ohne

                Rücksicht auf die römischen Sitten und ohne zu bedenken, daß bei dem
                damaligen Zustand der Stadt noch keine verderbte Staatsform möglich
                war, Aufruhr gegen den Senat und die vaterländischen Gesetze erregte.
                Hieraus erkennt man die Vollkommenheit dieses Staats und die Reinheit
                seiner Sitten; denn wiewohl der Adel sonst fest zusammenhielt, rührte
                sich beim Prozeß des Manlius kein Adliger zu seiner Verteidigung, und
                keiner seiner Verwandten tat etwas für ihn. Während sie sonst, wenn

                andre angeklagt wurden, mit Asche bestreut, in Trauerkleidern und mit
                kummervollen Mienen zu erscheinen pflegten, um Mitleid für ihn zu





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