Page 971 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Leben reicht nicht aus, ein Volk so zu verderben, daß er selbst die
Früchte genießen kann. Wäre aber auch die Zeit nicht zu kurz dazu, so
wäre es doch gegen die Natur der Menschen, denn sie sind ungeduldig,
können die Befriedigung ihrer Leidenschaften nicht lange
hinausschieben und täuschen sich auch in ihren Angelegenheiten,
besonders in den Dingen, die sie sehnlichst herbeiwünschen. So würden
sie sich also aus Ungeduld oder Selbstbetrug auf unzeitgemäße
Unternehmungen einlassen und ein schlimmes Ende nehmen. Will man
also in einer Republik zu Ansehen kommen und ihr eine schlimme
Regierungsform aufzwingen, so müssen die Sitten bereits verderbt und
die Zustände nach und nach, von Geschlecht zu Geschlecht, zerrüttet
worden sein. Und dahin gelangt der Staat unvermeidlich, wenn er nicht,
wie oben gesagt, S. Buch III, Kap. 1. häufig durch gute Beispiele
aufgefrischt und durch neue Gesetze zu seinem Ursprung zurückgeführt
wird.
Manlius wäre also ein seltner und berühmter Mann geworden, wäre
er in einem verderbten Staat geboren. Darum müssen die Bürger, die in
einer Republik etwas zugunsten der Freiheit oder der Alleinherrschaft
unternehmen wollen, den Zustand des Staates in Betracht ziehen und
danach die Schwierigkeit ihres Unternehmens beurteilen. Denn es ist
ebenso schwierig und gefährlich, ein Volk, das in Knechtschaft leben
will, frei zu machen, wie ein Volk, das frei bleiben will, zu knechten.
Und da ich oben gesagt habe, man müsse bei seinen Handlungen die
Zeitumstände in Betracht ziehen und danach verfahren, so will ich im
folgenden Kapitel näher darauf eingehen.
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