Page 261 - Haftung für Gefahrguttransporte in Europa : zur außervertraglichen Haftung für Gefahrguttransporte zu Lande, zu Wasser und mit Luftfahrzeugen by
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3.Teil: Nationale Haftungsregelungen 237
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schied, dass die beklagte Gesellschaft gardien der Sauerstoffdruckflaschen sei. 1
Zur Begründung wurde angeführt, dass der Eigentümer der Flasche als gardien
ersatzpflichtig bleibt, wenn – wie im vorliegenden Fall – anzunehmen ist, dass die
Explosion nicht auf die Behandlung der Flasche während des Beförderungs- und
Ausladevorgangs, sondern auf einen nicht entdeckten Materialfehler der Flasche
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zurückzuführen ist. 1
Die neuere überwiegende Auffassung unterscheidet denn auch zwischen der
Herrschaft über die Handhabung der Sache (garde du comportement de la chose) und
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der Herrschaft über die Beschaffenheit der Sache (garde de la structure de la chose). 1
Nur diese Unterscheidung werde dem Begriff der garde im Sinne der tatsächlichen
1141 In Fällen, in
Gefahrenbeherrschung durch Einwirkungsmöglichkeit gerecht. 1
denen eine Sache unabhängig von ihrer Handhabung eine eigene Dynamik entfal-
ten kann, wie dies bei flüssigem Sauerstoff oder Explosivstoffen der Fall ist, hat
der Frachtführer/Beförderer, der solche Sachen nur transportiert, auf diese keine
Einwirkungsmöglichkeit und ist somit auch nicht gardien. Er haftet nur bei Verlet-
zung der garde du comportement de la chose. Die garde de la structure de la chose obliegt
1142 Auf Ge-
dagegen auch während des Transports dem Eigentümer der Sachen. 1
fahrguttransporte übertragen bedeutet dies, dass der Beförderer in der Regel die
garde du comportement hat, während die garde de la structure dem Eigentümer (i.d.R. der
Versender) obliegt. Dies setzt allerdings voraus, dass der Schaden einigermaßen
eindeutig auf einen Handhabungsfehler des Transporteurs oder auf einen Beschaf-
fenheitsfehler der Sache selbst zurückzuführen ist.
3. Haftungsausschluss und Mitverschulden
Liegen die Haftungsvoraussetzungen der Sachhalterhaftung vor, kann sich der
Halter nur dann noch von seiner Haftung befreien, wenn er nachweist, dass der
Kausalzusammenhang durch eine dritte, nicht aus seinem Bereich stammende
Ursache (cause étrangère) unterbrochen worden ist. Dazu zählen: höhere Gewalt
1143 , Verhalten eines Dritten (fait d`un tiers) oder Verhalten
(force majeure, cas fortuit) 1
1138 Civ. 2 e 10.6.1960, Dalloz 1960, Jurisprudence S. 609.
1139 Vgl. Civ. 2 e 10.6.1960, Dalloz 1960, Jurisprudence S. 609 f.; Zweigert/Kötz, Einführung in die
Rechtsvergleichung, S. 668.
1140 Marty/Raynaud, Droit Civil, Les obligations, Band 1 Les sources, Nr. 501 S. 596; Flour/Aubert/
Savaux, Les obligations, Band 2: Le fait juridique, Nr. 256; Goldman, Garde de la structure et
garde du comportement, in: Mélanges Roubier II, S. 51 ff.; Tunc, J.C.P. 1960 I, 1592; Mazeaud,
RTD civ. 1957, S. 520 (529 ff.); Esmein, J.C.P. 1960 II, Nr. 11824.
1141 Vgl. Gotthardt, Landesbericht Frankreich, in: Deliktsrecht in Europa, S. 45.
1142 So im Ergebnis auch Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 668; ebenso
Gotthardt, Landesbericht Frankreich, in: Deliktsrecht in Europa, S. 45; Cees van Dam, Europe-
an Tort Law, S. 54.
1143 Die Begriffe „höhere Gewalt“ (force majeure) und „Zufall“ (cas fortuit) werden heute synonym
verwendet, Gotthardt, Landesbericht Frankreich, in: Deliktsrecht in Europa, S. 30.