Page 279 - Haftung für Gefahrguttransporte in Europa : zur außervertraglichen Haftung für Gefahrguttransporte zu Lande, zu Wasser und mit Luftfahrzeugen by
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3.Teil: Nationale Haftungsregelungen 255
1. Die Regel aus Rylands v. Fletcher
Der einzige von der englischen Rechtsprechung entwickelte Tatbestand strikter
Haftung beruht auf der berühmten Entscheidung in der Sache Rylands v. Fletcher
1251 Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:
aus dem Jahre 1868. 1
Der Beklagte, welcher Eigentümer einer Mühle war, ließ auf seinem Grund-
stück ein großes Wasserreservoir errichten, um die Mühle mit Wasser zu versor-
gen. Unter dem angelegten Wasserreservoir befanden sich unbenutzte, teilweise
zugeschüttete alte Kohlenschächte, die mit dem vom Kläger auf dem Nachbar-
grundstück betriebenen Kohlenbergwerk in unterirdischer Verbindung standen.
Keiner der Beteiligten wusste von der Existenz der alten Kohlenschächte. Einige
Tage nach Errichtung des Wasserreservoirs gab plötzlich einer der alten Kohlen-
schächte nach, so dass das Wasser bis in das benachbarte Bergwerk eindringen
konnte und es überflutete. Die Folge war, dass das Bergwerk des Klägers nach
vergeblichen Ausbesserungsversuchen stillgelegt werden musste. Der Beklagte
wurde in zweiter Instanz zum Ersatz des Schadens verurteilt, obwohl ihm ein
1252
Verschulden nicht nachgewiesen werden konnte. 1
Richter Blackburn, der dem Berufungsgericht angehörte, formulierte in seinem
Urteil folgenden Satz, der später als die Regel (rule) aus Rylands v. Fletcher bezeich-
net wurde: „We think that the true rule of law is, that the person who for his own purposes
brings on his lands and collects and keeps there anything likely to do mischief if it escapes, must
keep it in at his peril, and, if he does not do so, is prima facie answerable for all the damage
1253 Das House of Lords bestätigte die
which is the natural consequence of its escape.“ 1
Entscheidung Blackburns und fügte als weitere Voraussetzung hinzu, dass die
1254
Nutzung des Grundstücks „non-natural“ sein müsse. 1
Der in Rylands v. Fletcher entwickelte Grundsatz ist später auch auf das Entwei-
1255 1256 und
chen von giftigen Kreosotdämpfen 1 , schwefelsäurehaltigen Rußflocken 1
1257 , das auf einem Grundstück in großen Mengen meist zu industriellen Zwe-
Gas 1
1251 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 672.
1252 Die Entscheidung des Court of Exchequer aus dem Jahre 1866 (L.R. 1 Ex. 265, S. 279 f.) wurde
vom House of Lords 1868 bestätigt (L.R. 3 H.L., S. 330). Ausführlich zur Entscheidung in der
Sache Rylands v. Flechter Vogler, Grundlagen und Grenzen der anglo-amerikanischen Gefähr-
dungshaftung nach der rule in Rylands v. Fletcher, Münster 1965, S. 18 ff.
1253 Rylands v. Flechter (1866) L.R. 1 Ex. 265, S. 279 f. Folgende Übersetzung findet sich bei Zwei-
gert/Kötz, Die Haftung für gefährliche Anlagen in den EWG-Ländern sowie in England und
den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 34: „Unserer Ansicht nach geht die zutreffende
Rechtsregel dahin, dass derjenige, der eine Sache zu eigenen Zwecken auf sein Grundstück ver-
bringt und dort sammelt und lagert, dies auf eigene Gefahr tut, sofern die Sache für den Fall ih-
res Entweichens Schaden anzurichten geeignet ist; wenn er die Sache entweichen lässt, so ist er
prima facie verantwortlich für allen Schaden, der die natürliche Folge des Entweichens dar-
stellt.“
1254 Rylands v. Flechter (1868) L.R. 3 H.L., S. 330.
1255 West v. Bristol Tramways Co. (1908) 2 K.B., S. 14.
1256 Halsey v. Esso Petroleum Co. (1961) 2 All E.R., S. 145.
1257 Northwestern Utilites, Ltd. v. London Guarantee and Accident Co. (1936) A.C., S. 108.