Page 104 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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98 Kapitel 4 • Die Europäische Union
Art. 6 III EUV – EMRK/Gemeinsame
Verfassungsüberlieferungen
2 (3) Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum
Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet
sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüber-
lieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine
Grundsätze Teil des Unionsrechts.
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Historisch gesehen ist Art. 6 III EUV die Grundnorm, da der
EuGH die Grundrechte zuerst aus den gemeinsamen Verfas-
sungsüberlieferungen der MS gewonnen hat.
Nold-Urteil des EuGH „Leading case“, eine richtungweisende Rechtssache in
Bezug auf den theoretischen Hintergrund unionsrechtlicher
Grundrechte im Sinne von Art. 6 III EUV, ist der Fall Nold
(Slg. 1974, 491). Gegenstand des Falles war eine von der Kom-
mission genehmigte Handelsregelung der Ruhrkohle AG für
Kohlehändler. Der Kohlehändler Nold klagte gegen die Kom-
mission gemäß dem damals noch bestehenden EGKSV. Der
EuGH urteilte: „Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass
die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehö-
ren, die er zu wahren hat, und dass er bei der Gewährleistung
dieser Rechte von den gemeinsamen Verfassungsüberliefe-
rungen der Mitgliedstaaten auszugehen hat. Hiernach kann er
2 keine Maßnahmen als rechtens anerkennen, die unvereinbar
sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkann-
ten und geschützten Grundrechten.“ Daraus ergeben sich zwei
2 Folgerungen: Erstens sind die Unionsgrundrechte von den na-
tionalen Grundrechten strikt zu trennen und zweitens sind die
2 Unionsgrundrechte kein größter oder kleinster gemeinsamer
Nenner der mitgliedstaatlichen Grundrechte.
Genauso wenig bestimmt das weiteste oder das engste na-
2 tionale Grundrecht den Standard des Unionsgrundrechts. Ein
unionsrechtliches Grundrecht ist vielmehr aus einer werten-
2 den Vergleichung zu gewinnen. Die nationalen Grundrechte
fließen also nicht in die Unionsgrundrechte ein, sondern stel-
2 len nur Beispiele für die Unionsgrundrechte dar, sog. Rechts-
erkenntnisquellen.
Wertende Rechtsvergleichung Die Methode „wertende Vergleichung“ mag zunächst so
2 erscheinen, als ob sie zu willkürlichen Ergebnissen führen
könnte. Gleichwohl hat die Methode ihre Berechtigung, denn
2 mit ihr lässt sich aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten
genau ermitteln, welche Individualinteressen sie dem grund-
rechtlichem Schutz unterstellen. Da die Mitgliedstaaten der
2 Union einem Kulturkreis angehören, kann man hier weitge-
hende Übereinstimmungen der Rechtsüberzeugungen erken-
nen. In seiner Rechtsprechung ist der EuGH bemüht, immer