Page 107 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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          4.3  •  Grundrechte und allgemeine Rechtsgrundsätze


          Rechtsgrundsätze“ die bei den „Kulturvölkern“ übereinstim-
          mend anerkannten Rechtsgrundsätze gemeint, vgl. Art. 38
          IGH-Statut. Dies lässt sich auf das Unionsrecht übertragen. Die
          Rechtsquelle, die Grundlage der Allgemeinen Rechtsgrund-
          sätze, ist die gleichförmige Geltung eines Rechtsgrundsatzes
          im Recht bzw. in der Verfassungstradition der Mitgliedstaaten.
            Neben den Grundrechten des Art. 6 III EUV finden sich   Allgemeine Rechtsgrundsätze
          allgemeine Rechtsgrundsätze hauptsächlich im Bereich rechts-  des Gemeinschaftsrechts
          staatlicher Garantien des ordnungsgemäßen Verwaltungsver-
          fahrens und der Rechtsetzung.

          Die Gewinnung der Rechtsgrundsätze: Es gehört zu ihrem
          Charakter als ungeschriebenes Recht, dass ein allgemeiner
          Rechtsgrundsatz des Unionsrechts unklar formuliert ist. Auch
          in den Mitgliedstaaten der Union sind diese Grundsätze teil-
          weise ungeschriebenes Recht, was eine Formulierung auf eu-
          ropäischer Ebene weiter erschwert. Vorteilhaft ist dabei aber,
          dass Rechtsgrundsätze flexibel und entwicklungsfähig sind.
            Die Konturierung der Rechtsgrundsätze, die unbestimmt,   Kompetenz zur Bestimmung
          aber unentbehrlich sind, könnte etwa der Ministerrat vorneh-  der Rechtsgrundsätze
          men, indem er eine Verordnung erlässt, in der er feststellt,
          was zu den in der Union geltenden allgemeinen Rechtsgrund-
          sätze des Primärrechtes zählt. Stattdessen ist die Formulie-
          rung in der Praxis Sache des EuGH. In seinen Urteilen und
          Gutachten erkennt und formuliert er die Grundsätze und
          wendet sie auch an. Gebunden daran sind aber auch alle an-
          deren EU-Organe. Art. 19 I 2 EUV ist in den Verträgen der
          konkreteste Anhaltspunkt dafür, dass der EuGH allgemeine
          Rechtsgrundsätze formulieren kann. An sich haben Organe
          nur die Kompetenzen, die ihnen ausdrücklich von den Ver-
          trägen gegeben sind (Prinzip der begrenzten Einzelermäch-
          tigung, Art. 5 I, II EUV). Zwar enthält Art. 19 I 2 EUV nicht
          explizit eine solche Kompetenz des EuGH, jedoch umfasst
          die „Wahrung des Rechts“ auch die Anwendung der gelten-
          den allgemeinen Rechtsgrundsätze. Soll der Gerichtshof die
          Grundsätze anwenden, so muss er sie vorher auch formulie-
          ren können. Folglich kommt dem EuGH eine entsprechende
          Kompetenz zu.
            Die Methodik, derer sich der EuGH bei der Herausarbei-  Wertende Rechtsvergleichung
          tung der Rechtsgrundsätze bedient, ist nicht immer transpa-
          rent. Oftmals sind die Formulierungen in den Urteilen nicht
          sehr ausführlich und ergiebig. In der Regel sind die Schlussan-
          träge der Generalanwälte wesentlich erhellender.
            Bei der Gewinnung eines Rechtsgrundsatzes stellt der
          EuGH im Wege der wertenden Rechtsvergleichung auf fol-
          gendes ab:
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