Page 122 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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116 Kapitel 4 • Die Europäische Union
Häufig Mehrheitsentschei- Im Grundsatz beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit,
dungen das sonst im internationalen Bereich häufig anzutreffende
Prinzip des one state – one vote gilt für die EU nur einge-
2 schränkt. Dies ist bemerkenswert, da der Rat in vielen Fällen
ohne Einstimmigkeit Normen setzen kann, die dann unmit-
telbar für und in den Mitgliedstaaten gelten. Hier liegt eine
entscheidende Konsequenz der Übertragung von Hoheitsrech-
ten an die EU. Die Rechtsetzung gegen den Willen einzelner
4 Staaten ist ein Element der Supranationalität der EU.
Der Rat ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte
der stimmberechtigten Ratsmitglieder anwesend sind,
Art. 11 IV GO-Rat. Stimmrechtsübertragungen sind nach
Art. 239 AEUV möglich, allerdings kann sich ein Ratsmitglied
immer nur die Stimme eines anderen Mitglieds übertragen
lassen. Nichtanwesenheit eines Mitglieds wirkt wie eine ne-
gative Stimmabgabe.
Einstimmigkeit Bei Beschlüssen für die Einstimmigkeit erforderlich ist,
wie bei Art. 352 AEUV, steht die Stimmenthaltung dem
Beschluss nicht entgegen, sie wirkt folglich nicht wie eine
faktische Gegenstimme, Art. 238 IV AEUV. Einstimmigkeit
ist nur bei Anwesenheit aller Mitglieder gegeben, ein MS
kann sich von einem anderen vertreten lassen. Stimmenthal-
tungen hindern das Zustandekommen eines einstimmigen
Beschlusses nicht, theoretisch braucht eine Annahme nur
2 Qualifizierte Mehrheit eine Ja-Stimme.
Im Gegensatz zum bis zum Inkrafttreten des VvL gel-
und doppelt qualifizierte tenden Systems werden die Stimmen der einzelnen MS bei
2 Mehrheit Mehrheitsabstimmungen nicht mehr nach einem kompli-
zierten Modus gewogen. Dies war der politisch am heftigsten
2 umstrittene Punkt bei den Verhandlungen zum VvL, da die
Staaten über die Stimmenwägung einen unterschiedlich gro-
ßen Einfluss auf die Mehrheitsentscheidungen im Rat hatten;
2 bspw. waren die Stimmen von Spanien und Polen weit über-
repräsentiert.
2 Allerdings wurde auch im VvL ein sehr unübersichtlicher
Kompromiss für die Bestimmung der Begriffe „qualifizierte
-
2 Mehrheit“ und „doppelt qualifizierte“ Mehrheit getroffen. Da-
bei sind zwei zeitliche Phasen zu unterscheiden:
2 Seit dem 1.11.2014 gilt: Der beschriebene Modus gilt in
der Übergangsphase weiter, wenn ein MS dies beantragt,
Art. 16 V EUV iVm Art. 3 II Übergangsprotokoll. Fehlt
2 ein solcher Antrag, findet in der Übergangsphase eine
Stimmenwägung nicht mehr statt, jeder MS verfügt über
eine Stimme. Ein Beschluss auf Vorschlag der Kommis-
2 sion oder des Hohen Vertreters kommt danach zustande,
wenn eine Mehrheit von 55 % der Ratsmitglieder, beste-
hend aus mind. 16 MS, die mind. 65 % der Bevölkerung