Page 190 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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184  Kapitel 6  •  Materielles Recht und Rechtsschutz in der EU


                                  lung fallen. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn der Staat
                                  eine Garantenstellung für das Einhalten der Warenverkehrs-
                                  freiheit hat. Diese Garantenstellung folgt aus der in Art. 4 III
   2                              EUV verankerten Pflicht der Mitgliedstaaten, sich unionstreu
                                  zu verhalten. Folglich können indirekt auch Handlungen von
                                  Privatpersonen zu einer Verletzung von Art. 34 AEUV durch
                                  einen Mitgliedstaat führen.
          Wirkung der Maßnahme ist   Bei Vorliegen einer Handelsregelung ist deren Wirkung
          entscheidend.           entscheidend. Wenn diese geeignet ist, den innergemein-
                                  schaftlichen Handel zu behindern, wird die Maßnahme von
                                  Art. 34 AEUV erfasst. Hiervon sind unproblematisch alle
                                  diskriminierenden Regelungen, d. h. Regelungen, die aus-
   6                              ländische Produkte gegenüber inländischen benachteiligen,
                                  erfasst.
          Cassis-Formel              Fraglich war dann aber lange Zeit, wie nichtdiskriminie-
                                  rende Regelungen zu behandeln sind. Solche Maßnahmen sind
                                  typischerweise unterschiedslos auf in- und ausländische Pro-
                                  dukte anwendbar. Kann dann auch der innerunionale Handel
                                  behindert werden? Der EuGH hat diese Frage in dem berühm-
                                  ten Urteil Cassis de Dijon (Slg. 1979, 649) bejaht. Nach der
                                  Cassis-Formel dürfen grundsätzlich alle Waren, die in einem
                                  Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr ge-
                                  bracht wurden, in allen anderen Mitgliedstaaten eingeführt
                                  und vertrieben werden. Allerdings nur, wenn dem nicht „zwin-
   2                              gende Erfordernisse“ entgegenstehen.
                                     Zu dieser Rechtfertigung später mehr. Also ist es nach der
                                  Cassis-Formel ausreichend, wenn ein Produkt in einem Mit-
   2                              gliedstaat der EU rechtmäßig auf den Markt gebracht worden
                                  ist. Dann hat dieses Produkt das Recht, das Gebiet der EU frei
   2                              „zu bereisen“.
                                     Beispiel (Slg. 1987, 1227): In der Bundesrepublik war es nach
                                  dem Biersteuergesetz (BStG) verboten, Biere, die nicht nach dem
   2                              deutschen Reinheitsgebot gebraut waren, als „Bier“ in den Ver-
                                  kehr zu bringen. Diese Maßnahme war unterschiedslos auf in-
   2                              und ausländische Produkte anwendbar. Dennoch schloss die Vor-
                                  schrift aus, dass im Ausland unter „Bier“ firmierende Getränke
   2                              in der Bundesrepublik verkauft wurden. Dagegen hat dann die
                                  Kommission erfolgreich vor dem EuGH geklagt, weil das BStG
                                  den innerunionalen Handel behindere (= Tatbestand erfüllt) und
   2                              der Rechtfertigungsgrund des zwingenden Erfordernisses der Re-
                                  gelung nicht eingreife.
   2                                 Unter Einbeziehung der Cassis-Formel waren dann
                                  alle staatlichen Maßnahmen, die auch nur im Entferntes-
                                  ten den Handel berührten, verboten, da sie in den Schutz-
   2                              bereich des Art. 34 AEUV fielen. Der EuGH hat dann in
                                  einem Fall, in dem es um Verkaufsmodalitäten ging (Keck,
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