Page 21 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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          1.4  •  Die Falllösung und ihre Schritte


            Immer im Auge zu behalten ist: Wenn nicht nach der
          Rechtslage gefragt ist, dann ist nur die Fallfrage zu prüfen und
          auf keinen Fall alle rechtlichen Aspekte des Falles.
            Aber von der Theorie jetzt zurück zum praktischen Fall:
          Fraglich ist zweierlei, erstens, ob das Verhalten des Staates
          rechtswidrig war und zweitens, ob sich daraus rechtliche Kon-
          sequenzen ergeben.
            Für die Lösung kommt entweder eine Norm des interna-
          tionalen Rechts oder eine Norm des innerstaatlichen Rechts
          in Frage. Das innerstaatliche Recht Diktatorias, das den Ver-
          urteilten getötet hat, kennen wir nicht. Es ist aber nicht davon
          auszugehen, dass Verurteilung und Vollzug der Strafe inner-
          staatlich rechtswidrig waren, denn ein staatliches Gericht hat
          verurteilt und die Polizei hat dieses Urteil vollstreckt. In Frage
          kommt hier also nur eine Norm aus dem internationalen
          Recht. Bei der Hinrichtung dürfte es sich um eine Menschen-
          rechtsverletzung handeln. Die dafür passende Norm könnte in
          der Europäischen Menschenrechtskonvention oder in den da-
          zugehörigen Zusatzprotokollen zu finden sein. Der Art. 1 des
          6. Zusatzprotokolls (ZP) zur EMRK lautet: „Die Todesstrafe
          ist abgeschafft. Niemand darf zu dieser Strafe verurteilt oder
          hingerichtet werden.“


          1.4.3  Der Tatbestand einer Norm


          Sachverhalt deutlich, Norm gefunden, und schon befinden Sie
          sich mitten in der Subsumtion. Weiter kommen Sie aber nur,
          wenn Sachverhalt und Norm aufeinander passen. Eine Norm
          ist dann auf einen Sachverhalt anwendbar, wenn der sog. „Tat-
          bestand“ der Norm passt, d. h., wenn die Norm abstrakt, also
          für unbestimmt viele Fälle einen solchen Sachverhalt regeln
          will. Ob das der Fall ist, entnimmt man aus ihrem Tatbestand.
          Das ist der Teil der Norm, der die Fakten, für die die Norm
          gilt, umreißt.
          -   Tatbestand und
            Eine Norm setzt sich zusammen aus:
          -
              Rechtsfolge.

          Bei Art. 1 ZP 6 zur EMRK ist der Tatbestand „Die Todes-
          strafe“. Aus diesen Worten ergibt sich, auf welche Lebensfälle
          die Norm bezogen ist, nämlich auf jegliche Verurteilungen von
          natürlichen Personen zum Tode. Die EMRK richtet sich an die
          Unterzeichnerstaaten. Art. 1 erfasst daher staatliche Verurtei-
          lungen und Vollstreckungen Diktatorias.
            Juristische Personen, das sind Rechtspersönlichkeiten auf-
          grund Gesetzes, sind logischerweise vom Schutzbereich des
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