Page 23 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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1.4 • Die Falllösung und ihre Schritte
Tatbestandsmerkmale getrennt werden, um nicht durchein-
ander zu kommen.
Art. 352 AEUV wird später noch genauer besprochen
(▶ Abschn. 4.2). An dieser Stelle nur so viel: Art. 352 AEUV
bezeichnet man als „Kompetenzergänzungsklausel“. Wann
immer es sinnvoll erscheint, dass die Union etwas regelt, sie
aber keine Kompetenz aus den Verträgen dafür hat, kann
Art. 352 AEUV bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen
und der erforderlichen Mehrheit greifen, so dass eine Kompe-
tenz der Union gegeben ist.
Aber jetzt zurück zu unserem Beispiel aus der EMRK. Dem
Art. 352 AEUV werden wir uns später im Rahmen der Kom-
petenzgrundlagen der Union wieder zuwenden.
1.4.4 Normexterne Voraussetzungen
Leider existieren neben den Merkmalen, die ausdrücklich im
Tatbestand stehen, auch noch außerhalb der passenden Nor-
men Voraussetzungen der Anwendung dieser Normen. Man
könnte sie als normexterne Voraussetzungen bezeichnen.
Insbesondere im internationalen Recht ist dementsprechend Nicht alle Voraussetzungen
nicht nur zu prüfen, ob der eigentliche Tatbestand einer Norm einer Rechtsfolge sind immer
erfüllt ist, sondern auch, ob ein Staat überhaupt an die Norm in ein- und derselben Norm
gebunden ist. Im Bürgerlichen Recht etwa ist das kein Problem, versammelt.
weil alle Privatpersonen daran gebunden sind. Im Völkerrecht ist
es etwas anders. Damit Diktatoria durch die EMRK und die ZP
rechtlich betroffen ist, muss ein völkerrechtlicher Bindungsakt
vorliegen. Das heißt, die EMRK und Art. 1 ZP 6 EMRK sind
nur anwendbar, wenn Diktatoria die EMRK und auch das 6. ZP
ratifiziert, sich also zur Einhaltung beider Verträge verpflichtet
hat. Diktatoria hat sowohl die EMRK als auch das 6. ZP ratifi-
ziert. Daher ist der Staat an das Verbot der Todesstrafe gebunden.
Zu unterscheiden von den normexternen Voraussetzungen
sind die sog. ungeschriebenen Voraussetzungen einer Norm. Un-
geschriebene Voraussetzungen beziehen sich speziell auf eine
Norm. Dabei hat sich durch Rechtsprechung und/oder Lehre
ergeben, dass der Tatbestand der Norm unvollständig ist, sei
es durch ein Redaktionsversehen bei ihrer Formulierung, sei
es durch eine nachträgliche Änderung benachbarter Normen.
Diese Unvollständigkeit des Tatbestandes gleicht dann insbeson-
dere die Rechtsprechung dadurch aus, dass sie in ihren Urtei-
len ungeschriebene Tatbestandsmerkmale innerhalb der Norm
festlegt, die die betreffende Lücke schließen. Der Tatbestand der
Norm wird dann um das ungeschriebene Merkmal ergänzt.
Ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal beinhaltet Art. 1
ZP 6 EMRK allerdings nicht.