Page 224 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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218  Kapitel 6  •  Materielles Recht und Rechtsschutz in der EU


                                  gener und Dubliner Abkommen, erfordert Maßnahmen, die
                                  negative Effekte für die innere Sicherheit kompensieren. Wird
                                  das staatliche Instrument der Grenzkontrolle abgeschwächt, so
   2                              ist den Mitgliedstaaten der EU die Wahrnehmung ihrer Garan-
                                  tenfunktion für diese innere Sicherheit erschwert. Die grenz-
                                  überschreitende polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit
                                  als Kompensation der Grenzdurchlässigkeit ist keine Erfin-
                                  dung des Unionsrechts. Bereits seit den fünfziger Jahren gibt es
                                  völkerrechtliche Übereinkünfte zwischen europäischen Staaten
                                  auf diesem Gebiet, so etwa das Europäische Auslieferungsüber-
                                  einkommen von 1957, welches Bestimmungen über die ge-
                                  genseitige Auslieferung von Personen enthält, die Gegenstand
   6                              einer Strafverfolgung in einem Vertragsstaat sind. Trotzdem
                                  blieb die europäische Zusammenarbeit im Bereich der inne-
                                  ren Sicherheit Stückwerk, bis der Maastrichter Unionsvertrag
                                  1992 erstmals Ansätze zu einer systematischen Zusammenar-
                                  beit etablierte. Die intergouvernementale Zusammenarbeit in
                                  Bezug auf polizeiliche und justizielle Angelegenheiten wurde
                                  zur dritten Säule der EU und ist nunmehr voller, supranatio-
                                  naler Bestandteil des Unionsrechts.
                                     Die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen ist vergleich-
                                  bar der Zusammenarbeit in Zivilsachen an der gegenseitigen
                                  Anerkennung gerichtlicher Urteile  und  Entscheidungen
                                  orientiert. Darüber hinausgehend können gemäß Art. 82 II
   2                              AEUV Mindestvorschriften hinsichtlich der Zulässigkeit von
                                  Beweismitteln, der Rechts des Einzelnen und der Rechte der
                                  Opfer im Strafverfahren erlassen werden. Dies geht in die
   2                              Kernzuständigkeit von Staaten über, so dass Abs. 3 besondere
                                  Zustimmungsmodalitäten enthält, wenn ein MS erklärt, dass
   2                              durch die zu treffende Maßnahme grundlegende Aspekte sei-
                                  ner Strafrechtsordnung betroffen seien. Ein Beispiel für eine
                                  Maßnahme ist der Europäische Haftbefehl Rahmenbeschluss
   2                              (2002/584/JI, ABl. 2002L 190/1). In einem Extremfall hat das
                                  BVerfG judiziert, dass die Ausführung eines Europäischen
   2                              Haftbefehls die durch Art. 79 III GG für unantastbar erklärte
                                  Menschenwürde berühre und somit die Identität des GG ver-
   2                              letzen würde (BVerfGE, 2 BvR 2735/14; Verstoß gegen die
                                  Identitätskontrolle und kein Vorrang des Unionsrechts).
          Straftaten von besonders   Art. 83 AEUV gibt der Union eine Kompetenz zum Erlass
   2      schwerer Dimension      von Mindestvorschriften zum Vorgehen gegen Straftaten von
                                  besonders schwerer Dimension, denen eine grenzüberschrei-
   2                              tende Dimension zukommt. Die Kriminalitätsbereiche sind in
                                  Abs. 1 UAbs. 2 abschließend aufgezählt, zu ihnen gehören unter
                                  anderem Terrorismus, illegaler Menschenhandel und illegaler
   2                              Drogenhandel. Wiederum existiert eine Abweichungsmöglich-
                                  keit vom Abstimmungsmodus, wenn ein Mitgliedstaat grundle-
                                  gende Aspekte seiner Strafrechtsordnung bedroht sieht.
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