Page 254 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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248 Kapitel 6 • Materielles Recht und Rechtsschutz in der EU
6.10.1 Vertragsverletzungsverfahren
Das Vertragsverletzungsverfahren kommt in der Rechtspre-
2 chung des Gerichtshofes eher selten vor. Der Grund liegt darin,
dass sich weder die Mitgliedstaaten noch ein Organ der EU
gerne öffentlich „anschwärzen“ (oder angeschwärzt werden)
und viele Streitigkeiten in diesem Bereich schon im Vorfeld
erledigt werden. Dennoch macht die Kommission von ihrem
Recht aus Art. 258 AEUV vermehrt Gebrauch.
Art. 258 AEUV – Anrufung des Gerichtshofs durch die
Kommission
6 Hat nach Auffassung der Kommission ein Mitgliedstaat gegen
eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen, so gibt sie eine
mit Gründen versehene Stellungnahme hierzu ab; sie hat dem
Staat zuvor Gelegenheit zur Äußerung zu geben.
Kommt der Staat dieser Stellungnahme innerhalb der von der
Kommission gesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission
den Gerichtshof anrufen.
Antragsteller, -gegner und Streitgegenstand ergeben sich aus
dem Wortlaut.
Die Klagebefugnis der Kommission ist gegeben, wenn sie
2 der Auffassung ist, dass ein Vertragsverstoß vorliegt. Sie muss
von der Vertragsverletzung in tatsächlicher und rechtlicher
Hinsicht überzeugt sein. Vermutungen oder Zweifel sind nicht
2 ausreichend.
Vorverfahren - Das Vorverfahren gliedert sich in mehrere Schritte:
2 Die Kommission kommt zu der Ansicht, dass ein Mit-
gliedstaat gegen eine Norm aus den Verträgen verstoßen
hat,
2 - sie sendet ein Mahnschreiben an den Mitgliedstaat, um
den Mitgliedstaat zur Stellungnahme zu veranlassen
2 - nimmt der Staat nicht Stellung oder kann er die Kom-
(Vorverfahren),
2 - mission nicht von der Rechtmäßigkeit seines Handelns
überzeugen,
2 dann sendet die Kommission eine mit Gründen verse-
hene formelle Stellungnahme an den Mitgliedstaat und
setzt ihm darin eine Frist, den genau benannten Rechts-
2 verstoß zu bereinigen. Die Frist muss den Umständen
des Falles nach angemessen sein, zwei Monate sind in der
- Regel ausreichend,
2 kommt der Mitgliedstaat dieser Stellungnahme nicht
nach, so darf die Kommission ihn vor dem EuGH verkla-
gen.