Page 259 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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6.10 • Der Rechtsschutz gegen Unionsrecht
juristischer Personen führt. Dies wird seitens der Generalan-
wälte in ihren Schlussanträgen vermehrt kritisiert, wie an der
Rechtssache Pequenos Agriculturos (Slg. 2002, I-6677) aufge-
zeigt werden soll.
In dem Verfahren hat einer berufsständische Vereinigung Restriktive Auslegung der Kla-
für ihre Mitglieder gegen eine Verordnung geklagt. Die VO gebefugnis durch den EuGH
betraf die Mitglieder der Klägerin nur in ihrer objektiven
Eigenschaft als Wirtschaftsteilnehmer, ein Herausheben aus
dem Kreis aller übrigen Personen im Sinne der Plaumann-
Rechtsprechung lag nicht vor. Jedoch stand der Klägerin im
konkreten Einzelfall kein anderer Rechtsbehelf zur Verfügung,
um die Rechtmäßigkeit der VO überprüfen zu können. GA
Jacobs argumentierte, dass das Recht des Einzelnen auf effek-
tiven Rechtsschutz, wie es in Art. 6, 13 EMRK verbürgt ist, zu
den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört
und dass das Gemeinschaftsrecht, abgesehen von Art. 263 IV
AEUV, keinen Rechtsschutz gegen normatives Unrecht ge-
währe. Unter Bezugnahme auf ein Urteil des EuG (Jégo-Quéré,
Slg. 2002, II-2365) schlug er vor, Art. 263 IV AEUV in Einklang
mit diesem Rechtsgrundsatz auszulegen. Eine individuelle Be-
troffenheit läge vor, wenn die streitgegenständliche Bestim-
mung die Rechtsposition der Klägerin unzweifelhaft und ge-
genwärtig beeinträchtige und dadurch ihre Rechte einschränke
oder ihr Pflichten auferlege. Dies würde zu einer Erweiterung
der Klagebefugnis bei Verordnungen führen. Der EuGH lehnte
diese Neuausrichtung ab. Begründet wurde dies damit, dass die
Verträge ein vollständiges System von Rechtsbehelfen geschaf-
fen haben. In diesem System haben natürliche oder juristische
Personen, die nicht klagebefugt nach Art. 263 IV AEUV sind,
die Möglichkeit einer Inzidentkontrolle des fraglichen Rechts-
aktes nach Art. 277 AEUV oder über das Vorlageverfahren
nach Art. 267 AEUV vorzugehen. Folglich sei es Sache der MS
ein System von Rechtsbehelfen vorzusehen, mit dem die Ein-
haltung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz gewährleistet
werden könne. Ferner seien die nationalen Gerichte nach dem
aus Art. 4 III EUV folgenden Grundsatz der loyalen Zusam-
menarbeit verpflichtet, die nationalen Vorschriften so auszu-
legen und anzuwenden, dass jede nationale Maßnahme, die
auf Unionsrecht beruht, angefochten werden kann. Letztlich
würde die vom GA vorgeschlagene Auslegung zur Aufhebung
des Merkmals individuelle Betroffenheit in Art. 263 IV AEUV
führen, wozu der EuGH nach Art. 19 EUV nicht befugt sei
(Pequenos Agriculturos, a. a. O.; bestätigt durch die Rechtsmit-
telentscheidung in C-263/02 P, Jégo-Quéré, Slg. 2004, I-3425).
Dies kann nur im Wege der Vertragsänderung durch die MS
vorgenommen werden. Angesichts der ansonsten vom EuGH
doch angewandten sehr weiten Sichtweise von Tatbeständen