Page 258 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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252 Kapitel 6 • Materielles Recht und Rechtsschutz in der EU
Privilegiert klagebefugt Privilegiert klagebefugt bedeutet, dass der gerügte Rechtsakt
sich nicht gegen den Kläger richten muss. Die Klagebefugnis ist
gerade nicht Voraussetzung für die Zulässigkeit solcher Klagen.
2 Nichtprivilegiert klagebefugt Die nichtprivilegiert Klagebefugten können dagegen nur
Unmittelbar und individuell dann klagen, wenn sie klagebefugt sind. Das ist nach Art. 263 IV,
betroffen V AEUV zu beurteilen. Abs. IV kennt drei Varianten. Nach der
ersten ist eine Klagebefugnis gegeben, wenn die streitgegen-
ständliche Handlung an den Kläger gerichtet ist oder sie ihn
unmittelbar und individuell betreffen. Unmittelbar betroffen ist
der Kläger, wenn die Handlung keines mitgliedstaatlichen Um-
setzungsaktes, wie z. B. eines Gesetzes, mehr bedarf (Simmenthal,
Slg. 1979, 777). Individuelles Betroffensein liegt vor, wenn der
6 betreffende Rechtsakt einen Einzelnen wegen bestimmter per-
sönlicher Eigenschaften oder anderer, ihn aus dem Kreis aller üb-
rigen Personen heraushebender Umstände berührt (Plaumann,
Slg. 1963, 213).
Beispiel: Die EU würde eine VO erlassen, die das Produ-
zieren von Autos in dem Mitgliedstaat Irland verbietet. Ein
nationaler Umsetzungsakt ist nicht vorgesehen. In Irland gibt
es allerdings nur einen lizenzierten Autoproduzenten P. Rich-
tet sich diese VO dann nicht individuell und unmittelbar gegen
ihn? Der Produzent ist nicht Adressat des Rechtsaktes und die
VO regelt auch den unbestimmten Fall des Autoproduzierens in
Irland. Dennoch erscheint der Ausschluss einer Klagemöglich-
2 keit für P nicht gerecht. Immerhin hätte die EU auch eine gegen
ihn gerichteten Beschluss erlassen können, welche er dann nach
Art. 263 IV AEUV hätte angreifen können. Den Ausweg aus
2 dieser Zwickmühle sehen die Tatbestandsmerkmale unmittelbar
und individuell vor. P ist der einzige lizenzierte Autoproduzent
2 in Irland, deswegen wird er aus dem Kreis herausgehoben und er
ist individuell betroffen. Unmittelbar betroffen ist er ebenfalls, da
die VO keines mitgliedstaatlichen Umsetzungsaktes mehr bedarf.
2 P könnte also die Nichtigkeitsklage erheben.
Verordnungen und Rechtsakte Fraglich ist allerdings, ob die erste Variante auf VOen
2 mit Verordnungscharakter überhaupt anwendbar ist, weil die dritte Variante ausdrück-
lich von „Rechtsakten mit Verordnungscharakter“ spricht.
2 Die Bedeutung dieses Begriffs war umstritten, da begrifflich
die Anwendung der Variante auf Verordnungen („mit Ver-
ordnungscharakter“) möglich ist. In der Rechtssache Inuit (C-
2 583/11 P) hat der EuGH dieser Ansicht eine Absage erteilt, die
dort genannten Rechtsakte seien keine Gesetzgebungsakte im
2 Sinne des Art. 288 AEUV, so dass sich die dritte Variante nicht
auf Verordnungen bezieht, diese werden somit nur von der
ersten Variante erfasst.
2 Wie oben gesehen, werden die Merkmale „unmittelbar“
und „individuell“ vom EuGH sehr restriktiv ausgelegt, was zu
einer Einschränkung der Klagemöglichkeiten natürlicher und