Page 24 - Michaels_Buch Februar_neu
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Schlag komplett veränderte. Mama lag Sonntagmorgen noch im Bett, als Papa sagte, sie wolle mit
jedem von uns sprechen und ich als Ältester solle zuerst zu ihr gehen. Mama saß aufrecht im Bett,
schaute mich ganz intensiv an und dann kam es. Ohne große Vorwarnung eröffnete sie mir, dass sie
Krebs und nur noch ein paar Tage zu leben hätte. Ich war wie betäubt. Wie konnte es sein, dass ich
nichts mitbekommen hatte? Meine Eltern wollten uns schonen und hatten alles vor uns
verheimlicht, bis es nicht mehr ging. Wir hatten nicht einmal gemerkt, dass Mama eine Perücke
trug.
Eine Woche später war sie tot. Nach der Beerdigung, die ich wie in Trance miterlebte, ging es in ein
Restaurant, wo das Leichtims, so heißt das traditionelle Essen stattfand. Alle tranken Kaffee und
aßen Kuchen und gegen Abend gab es Bier und Schnaps. Die Leute wurden immer fröhlicher,
Gelächter erklang und die Stimmung stieg von Minute zu Minute. Ich war total entsetzt, denn in mir
war nur tiefe Trauer. Ich hielt es nicht mehr aus und fuhr mit Doris zusammen nach Hause. Wir
haben beide die ganze Fahrt geweint und es hat sechs Monate gedauert, bis ich halbwegs darüber
hinweg war.
1971 Endlich frei
Ein Jahr nach Mamas Tod stellte Papa uns eine neue Frau vor. Er war der Meinung, dass meine
beiden kleinen Schwestern nicht ohne mütterliche Betreuung aufwachsen sollten. Sie hieß Astrid
und kam aus Süddeutschland. Zuerst war sie nur ab und zu am Wochenende da, doch dann zog sie
endgültig bei uns ein. Ich war mit dieser Situation vollkommen überfordert, da es mir wie Verrat an
Mama vorkam. Ich hatte einen Höllenkrach mit Papa und machte mich umgehend auf die Suche
nach einer eigenen Wohnung.
Ein Kumpel von mir erzählte, dass in seiner Nachbarschaft in Kottweiler eine 2-Zimmer-Wohnung
zu vermieten wäre. Ich schaute sie mir an und war begeistert. Sie hatte eine Küche mit
angrenzendem großen Balkon und mein Bruder und ich zogen schon am nächsten Tag ein. Da
meine Mutter Beamtin war, bekamen wir beide eine Waisenrente, mit der wir die Miete bezahlen
konnten. Durch die Musik wollten wir uns Geld dazu verdienen.
Da man zu der Zeit erst mit 21 Jahren volljährig wurde, hatten mein Bruder und ich ein Problem.
Durch den Bruch mit unserem Vater war es nötig, dass wir einen Vormund bekamen. Das bereitete
uns ganz schön Sorgen, denn wir standen jetzt auf eigenen Beinen und wollten auf keinen Fall
bevormundet werden. Doch unsere Bedenken waren verfrüht, denn unser Vormund hielt uns bei der
Beurkundung der Vormundschaft zwar eine lange Rede, in der er uns vor allen möglichen Gefahren
warnte und uns ständig besuchen wollte, aber das hat sich dann als Wichtigtuerei vor dem
Amtsleiter herausgestellt. Wir haben nie mehr wieder etwas von ihm gehört.
Im Mai musste ich zur Musterung nach Kaiserslautern. Mit Militär und Bundeswehr hatte ich
überhaupt nichts am Hut. Von meinen Eltern wurde ich zu einem Pazifisten erzogen und Dienst an
der Waffe kam für mich überhaupt nicht in Frage. Ich machte mir aber keine großen Gedanken,
denn ich wusste ja, dass ich im rechten Arm einen Nagel hatte. So kam es wie es kommen musste,
ich wurde der Ersatzreserve II zugeteilt, was so viel bedeutete wie Ausmusterung.
Ganz anders lief es bei meinem Bruder. Als er seinen Musterungsbescheid bekam, wurde mir Angst
und bange. Ich musste mir unbedingt etwas einfallen lassen. Drei Wochen vor dem Termin nötigte
ich ihn schon morgens, anzufangen Bier zu trinken. Er durfte nur noch wenig essen und war die
ganze Zeit im Delirium. Zwei Tage vor seinem Termin kam eine Bekannte und stach ihm mit einer
Sicherheitsnadel mehrmals in den Arm. Als ich ihn zur Musterung fuhr, war er nur noch ein Wrack
und man hielt ihn für einen Junkie. Auch er wurde ausgemustert.
Bei meinem VW-Bus, den ich mir im Jahr zuvor gekauft hatte, ging nach zehn Monaten der Motor