Page 62 - Michaels_Buch Februar_neu
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Ich hatte gerade CD 3 verlassen, als mir eine attraktive Frau auf dem Flur entgegenkam. Beim
            Näherkommen sah ich, dass es Anne Sophie Mutter, die Star-Geigerin war. Sie fragte mich nach der
            Toilette und ich zeigte ihr den Weg. Sie sah einfach umwerfend aus, war aber etwas kleiner als ich
            sie von Fotos in Erinnerung hatte.

            Christian war jetzt in einem Alter, wo er mit anderen Jungs spielen wollte. Er ging in Kaltenweide
            in den Kindergarten und hatte sich mit Olaf angefreundet. Der wohnte direkt gegenüber. Einmal
            waren die Kinder zum Spielen bei uns, ein anderes Mal bei den Nachbarn. Maja und Dietmar, die
            unter uns wohnten, versuchten seit Jahren ein Kind zu bekommen. Es klappte nicht und
            dementsprechend frustriert waren sie. Als wir einzogen hatten wir ein richtig gutes Verhältnis. Das
            veränderte sich jetzt immer mehr. Sie beschwerten sich fast täglich über den Kinderlärm. Wir
            versuchten zwar den Kleinen zu vermitteln, dass sie nicht mehr so viel durch die Wohnung rennen
            sollten, aber das half nichts. Das Klima zwischen uns wurde immer kälter und dann gaben sie auf
            und zogen aus. Witzigerweise wurde gerade dann Maja schwanger und die beiden bekamen ein
            Mädchen.

            Wenn Willi Urlaub hatte oder krank war, übernahm Hera seinen Job. Das war für uns nicht
            besonders lustig, weil sie viel strenger als Willi war. Der Horror waren NÜs. Das sind
            Nachüberspielungen, die notwendig sind, wenn unsere hergestellten Master Fehler aufwiesen. Wenn
            die Fehler in der Kontrolle der Fertigung festgestellt wurden, war der Schaden nicht so hoch, wenn
            aber bereits CDs gepresst und verkauft waren und ein Kunde einen Fehler entdeckte, dann gab es
            richtig Ärger.

            Hera tobte bei NÜs, als würde es an ihren eigenen Geldbeutel gehen. Ich kann mich noch an
            schlimme Nächte erinnern, wenn mich die Spätschicht anrief und mir mitteilte, dass gerade eine NÜ
            für mich gekommen sei, denn jetzt wusste ich, was mich am nächsten Tag erwarten würde. Hera hat
            sich im Laufe der Zeit so bei Herrn Riemer eingeschleimt, dass Willi überhaupt nicht mehr auf
            seinen alten Platz kam, sondern nur noch masterte.


            Eines Tages kam Herr Riemer zu Simon und mir und teilte uns mit, dass Karlheinz Stockhausen zu
            uns käme, um sein Lebenswerk zu digitalisieren. Wir würden in zwei Schichten mehrere Wochen
            mit ihm zusammenarbeiten. Wir beide kannten bereits einige Stücke von Stockhausen, konnten
            seiner experimentellen Musik aber so gar nichts abgewinnen. Es half nichts, wir mussten da durch.
            Ich übernahm den Maestro, so ließ er sich nennen, in der Tagschicht, Simon hatte ihn abends.

            Stockhausen brachte zwei Frauen mit, die er als seine Musen vorstellte. Sie bewunderten ihn, trugen
            ihm alles nach und rieben ihn mit übel riechenden Essenzen ein. Wir spielten die einzelnen Werke
            ein und bearbeiteten sie mit ihm zusammen. Es war die Hölle. So eine Musik, oder sollte ich lieber
            sagen, „Ansammlung von schrecklichen Geräuschen“ hatte ich vorher noch nie gehört. Nun musste
            ich das vier Wochen aushalten.

            Nach dem ersten Tag wurde ich zu Herrn Riemer und Herrn Grimme gerufen. Sie waren sehr erbost
            und Herr Grimme fragte mich, warum ich ständig Herrn Stockhausens Musik als Dreck bezeichnen
            würde. Ich stutzte. Wie kam Stockhausen dazu, so etwas zu behaupten? Zwar konnte ich seiner
            Musik tatsächlich nicht abgewinnen, aber das konnte der Maestro doch nicht wissen! Ich überlegte
            fieberhaft und musste dann lachen: Es handelte sich um ein Missverständnis, denn ich hatte von
            „Tracks“ gesprochen. So werden die einzelnen Titel eines Werkes genannt. Da ich aus der Pfalz
            komme, spreche ich das „t“ wie ein „d“ aus. Wir haben das Herrn Stockhausen erklärt, und da hat
            der immer so ernste Maestro doch tatsächlich mal gelacht.


            Elmars Vater starb in diesem Jahr und er beschloss, zu seiner Mutter zurück nach Velber zu ziehen.
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