Page 500 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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      Zügen zu dem Bilde eines gesetzmäßig geordneten Verlaufes zu ver-
      vollständigen, ohne viel Rücksicht auf die concrete Gestaltung in den
      einzelnen Momenten.   Erst Herbart hat auf    die Bedeutung jener
      Thatsache der »Bewusstseinsenge« für den Aufbau einer systematischen
      Psychologie hingewiesen.  Allerdings widersprechen  seine sonstigen
      Voraussetzungen über das Wesen der Vorstellungen dem unmittel-
      baren Ergebniss  der Analyse   des Bewusstseins , insofern  die An-
      theilnahme  der einzelnen Elemente  des Bewusstseins an dem   ge-
      sammten Umfange von ihm schließlich ganz und gar    als ein Wett-
      streit von substantialisirten Vorstellungswesen gedeutet wurde. Doch
      bleibt ihm das Verdienst,  als  erster  die Möglichkeit der Feststel-
      lung  einer relativ klaren Gesetzmäßigkeit in  dieser Vertheilung  je
      nach Zahl, Art und gegenseitiger Beziehung der Elemente erkannt
      zu haben.  Je durchsichtiger aber ein Zusammenhang schon bei einer
      allgemeinen Uebersicht erscheint, um so aussichtsreicher ist auch der
      Versuch, zu einer exacteren Analyse des Thatbestandes fortzuschreiten.
      Hierbei genügt aber nun   natürlich  nicht mehr  jene  oberflächliche
      Feststellung der Endlichkeit des Bewusstseins überhaupt, ohne ge-
      nauere Berücksichtigung  der betrachteten Zeitstrecke und der Vor-
      stellungselemente, welche im Verlauf dieser Zeit innerhalb des Be-
      wusstseins zur Geltung kamen.  Vergleichbare Resultate können nur
      bei gleichen Zeitstrecken und  vergleichbarer Ausfüllung  derselben
      erlangt werden. Auch wächst die Feinheit der Untersuchung natür-
      lich mit der Kleinheit der Zeitstrecke, über die wir noch eine relativ
      sichere Auskunft in dieser Hinsicht zu geben vermögen, und mit der
      Feinheit der Abstufungsmöglichkeiten der verwendeten Inhalte.  Hier
      versagt natürlich die alltägliche Beobachtung schon wegen der Unsicher-
      heit des Zeitbewusstseins hinsichtlich kleinster Zeitstrecken und muss
                                  z. B. auf die Annahme einer »äußerst
      sich dieselbe bei Herbart ^j
      kleinen Zahl« beschränken, die gleichzeitig vom Bewusstsein »umfasst«
      werden kann.  Die große »Beweglichkeit« des Bewusstseins, von der
      an der gleichen Stelle die Weite der Combinationen geistvoller Men-
      schen  abgeleitet  wird,  lässt  natürlich  zugleich auch Täuschungen
      über den jeweiligen Umfang des Bewusstseins sehr leicht mögUch er-
      scheinen und erfordert eine umso feinere Zeiteintheilung,


          1) Herbart, Lehrbuch zur Psychologie, S. 91.
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