Page 533 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Zur Theorie des Bewusstseinsumfanges und seiner Messung.
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    Deutlichkeit der Buchstaben,  bei  der von  vornherein  eine  gleich-
    mäßige Yertheilung der Aufmerksamkeit auf   ein größeres Feld ge-
    geben ist, eine solche typische Wortform sogleich heraustreten kann.
    Dazu ist ja zunächst weiter nichts vorausgesetzt,  als dass thatsächHch
    ein derartiger charakteristischer Gegenstand  der Apperception und
    der Einübung bis zur Geläufigkeit möglich sei,  w^ie  er in dem opti-
    schen Typus des Wortes, abgesehen von seinen einzelnen Theilen,
    besteht. Nun zeigt aber die Psychologie der Abstraction nicht nur,
    dass an  allen Complexen  die verschiedenen Merkmale im gewöhn-

    lichen Sinne des Wortes als ebenso viel einheitHche, wenn auch nie-
    mals ohne ihre concreto Grundlage denkbare Gegenstände der Auf-
    merksamkeit zu betrachten sind, sondern auch, dass diese Merkmale
    von den übrigen »Merkmalen« relativ unabhängig zu besonderer Beach-
    tung gelangen können, wobei die übrigen Merkmale zwar infolge der
    vorhinbezeichneten ünmögHchkeit des Bewusstseins abstracter Vorstel-
    lungen ohne die ganze concreto Grundlage nicht aus dem Bewusstsein
    verschwinden, aber doch relativ unbeachtet bleiben. Wo aber solche
    selbständige Beachtung mögHch ist, da kann auch eine relativ selb-
    ständige Einübung  stattfinden,  so  dass nun in Zukunft auch der
    Complex sogleich immer auf seine Form hin betrachtet wird.   Der
    sogenannte optische »Typus«  ist nun in der That nichts anderes als
    das Merkmal der durch die Buchstabencombination entstehenden Ge-
    sammtform, deren Einheitlichkeit  als Object der Betrachtung schon
    einmal zu ihrer Vergleichung mit derjenigen  einfachster QuaUtäten
    in dem Begriff der »Gestaltsqualität« geführt hat.
        Man braucht für unsere Frage nicht einmal zum allerallgemeinsten
    durch  die abstrahirende Apperception gewonnenen Merkmal aufzu-
     steigen, welches die Wiedererkennung bedingt, wenn kein einzelnes
    Element, sondern nur die Beziehungen wiedergegeben sind, wie  z. B.
    bei der Wiedererkennung der Melodie    in verschiedenen Tonlagen.
    Man kann sich vielmehr diese klar bewusste Form einfach als Com-



    leugnen,  dass die Gesammtform der geläufigen Wörter unter Voraussetzung der
    thatsäcUichen Geläufigkeit des Sprachschatzes ohne gleichzeitige Möglichkeit, einen
    der einzelnen Buchstaben sicher festzustellen, einen viel sichereren Schluss auf das
    Wort innerhalb möglicher Grenzen gestattet, vorausgesetzt, dass wirklich ein sinn-
                           Beim Lesen vollzieht sich dieser Process nur weniger
    volles Wort erwartet wird.
    reflectirt.
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