Page 559 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 559
Zur Theorie des Bewusstseinsumfanges und seiner Messung.
547
nothwendiger werden, je weniger uns die einzelnen in Betracht kommenden
Momente mit ihrer Zeitlage als Reihen- oder Streckenvorstellung ge-
läufig sind. Das Erlebnis hingegen, welches zu unseren ümfangs-
bestimmungen allein in Analogie gebracht werden darf, tritt erst ein,
wenn nach all diesen Schwierigkeiten wirklich eine in sich relativ ein-
deutige und innerlich im Ganzen gegenwärtige Gesammtvorstellung
gebildet ist. Nur wird eben beim exakten Zeitsinnexperiment über
nicht allzu lange Zeitstrecken das Erlebnis selbst gleich zum Aufbau
und zur Festhaltung der Reihen- oder Streckenvorstellung ausgenützt,
so dass nicht erst ein Zusammensuchen und Combiniren aus der Er-
innerung notwendig wird. Ist aber die zeitliche Gesammtvorstellung
einmal wirklich da, dann tritt der Vergleich ohne Rücksicht auf die
Größe der gemeinten Zeitstrecke mit gleicher Unmittelbarkeit ein
und beweist eben dadurch unsere Fähigkeit zu derartig eigenthümKchen
simultanen Vorstellungsgebilden, welche ebenfalls als eine Ausfüllung
des Bewusstseins verwerthbar sind. ^)
Mit alledem sind natürlich nicht einfach die Ergebnisse über die
die Unterschiedsempfindlichkeit bei der Vergleichung intensiver Größen,
mit ihrer nicht weiter in Elemente zerlegbaren Einheitlichkeit auf
extensive Größen übertragen, etwa durch unvermittfelte Hinzunahme
der Voraussetzung, dass sich schließlich auch jene Intensitäten aus
Elementen zusammensetzen müssten und dass deshalb auch die Unter-
schiedsschwelle als Summe unklarer Elemente aufzufassen sei, die
sich im ganzen endlich hinreichende Beachtung verschaffen. Die
eigenartige Vereinigung der Klarheitsgrade zusammengefasster Ele-
1) Die inhaltliche Gestaltung dieser über beliebig große Strecken ausdehn-
baren Zeitvorstellung ist natürlich ebenso, wie jene vorhin genannte Structur der
Vorstellung einer Dauer, ein Problem, auf das ich hier nicht weiter eingehen kann.
Jedenfalls können beliebig herausgehobene Grenzpunkte vermöge ihrer associativen
Wirksamkeit so viele dazwischenliegende Momente ins Bewusstsein heben und
mit entsprechenden Klarheitsgraden versehen als es der Umfang des Bewusstseins
für diese specielle Art von Vorstellungsbeziehungen, also für eine anschauliche
Die Psychologie der Abstraction müsste hier ebenso um-
Zeitvorstellung hergibt.
fangreich beigezogen werden, wie etwa bei der näheren Analyse des Vorstellungs-
umfanges, der sich bei tachistoskopischer Darbietung solcher Gesichtsvorstellungen
ergäbe, welche eine dreidimensionale Auffassung in größerem Stüe ermöglichen.
Hier wie dort wird natürlich die Klarheit der einzelnen VorsteUungselemente ihrer
Anzahl gemäß immer mehr herabgesetzt und die Uuterschiedsschwelle für ein
sicheres Vergleichsurtheil dementsprechend erhöht werden.
35*