Page 559 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Zur Theorie des Bewusstseinsumfanges und seiner Messung.
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      nothwendiger werden, je weniger uns die einzelnen in Betracht kommenden
      Momente mit ihrer Zeitlage als Reihen- oder Streckenvorstellung ge-
      läufig sind.  Das Erlebnis hingegen, welches zu unseren ümfangs-

      bestimmungen allein in Analogie gebracht werden darf, tritt erst ein,
      wenn nach all diesen Schwierigkeiten wirklich eine in sich relativ ein-
      deutige und innerlich im Ganzen gegenwärtige Gesammtvorstellung
      gebildet ist.  Nur wird eben beim exakten Zeitsinnexperiment über
      nicht allzu lange Zeitstrecken das Erlebnis selbst gleich zum Aufbau
      und zur Festhaltung der Reihen- oder Streckenvorstellung ausgenützt,
      so dass nicht erst ein Zusammensuchen und Combiniren aus der Er-
      innerung notwendig wird.  Ist aber die zeitliche Gesammtvorstellung
      einmal wirklich da, dann tritt der Vergleich ohne Rücksicht auf die
      Größe  der gemeinten Zeitstrecke mit gleicher Unmittelbarkeit  ein
      und beweist eben dadurch unsere Fähigkeit zu derartig eigenthümKchen
      simultanen Vorstellungsgebilden, welche ebenfalls als eine Ausfüllung
      des Bewusstseins verwerthbar sind. ^)
         Mit alledem sind natürlich nicht einfach die Ergebnisse über die
      die Unterschiedsempfindlichkeit bei der Vergleichung intensiver Größen,
      mit  ihrer nicht weiter in Elemente zerlegbaren Einheitlichkeit auf
      extensive Größen übertragen, etwa durch unvermittfelte Hinzunahme
      der Voraussetzung, dass  sich schließlich auch jene Intensitäten aus
      Elementen zusammensetzen müssten und dass deshalb auch die Unter-
      schiedsschwelle  als Summe unklarer Elemente aufzufassen  sei,  die
      sich im ganzen   endlich  hinreichende Beachtung  verschaffen.  Die
      eigenartige Vereinigung der Klarheitsgrade zusammengefasster Ele-


         1) Die inhaltliche Gestaltung dieser über beliebig große Strecken ausdehn-
      baren Zeitvorstellung ist natürlich ebenso, wie jene vorhin genannte Structur der
      Vorstellung einer Dauer, ein Problem, auf das ich hier nicht weiter eingehen kann.
      Jedenfalls können beliebig herausgehobene Grenzpunkte vermöge ihrer associativen
      Wirksamkeit so viele dazwischenliegende Momente ins Bewusstsein heben und
      mit entsprechenden Klarheitsgraden versehen als es der Umfang des Bewusstseins
      für diese  specielle Art von Vorstellungsbeziehungen,  also für eine anschauliche
                         Die Psychologie der Abstraction müsste hier ebenso um-
      Zeitvorstellung hergibt.
      fangreich beigezogen werden, wie etwa bei der näheren Analyse des Vorstellungs-
      umfanges, der sich bei tachistoskopischer Darbietung solcher Gesichtsvorstellungen
      ergäbe, welche eine dreidimensionale Auffassung in größerem Stüe ermöglichen.
      Hier wie dort wird natürlich die Klarheit der einzelnen VorsteUungselemente ihrer
      Anzahl gemäß immer mehr herabgesetzt und die Uuterschiedsschwelle für ein
      sicheres Vergleichsurtheil dementsprechend erhöht werden.
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