Page 586 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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574 Wilhelm Wirth.
integrirendes Element wegfiele oder ein neues hinzukäme, dann brauchte
zur Abgabe des richtigen Vergleichsurtheiles über den optischen
Complex höchstens nur ein Gesammteindruck zur Orientirung jener
kritischen Stelle vorhanden zu sein, eine Aufgabe, die bei der viel
einfacheren Orientirung in einem räumlichen Ganzen unsere Fassungs-
kraft viel weniger in Anspruch nähme, als die Wiedererkennung des
Reihenschlusses, der eine hinreichend klar gegliederte Gesammtvor-
stellung voraussetzt. Ist jedoch die Stelle der Variation innerhalb
des zweiten Yergleichsobjectes nicht immer die nämliche oder über-
haupt im Voraus bekannt, sondern völlig unvorhergesehen, so wird
eine Beeinflussung des Vergleichsurtheils nach unserem allgemeinsten
Princip (3,1) nicht anders erfolgen können, als dass wirklich das gerade
variirte einzelne Bewusstseinselement bezw. die Abweichung von dem
entsprechenden Elemente des Vergleichsobjectes eine einigermaßen
selbständige Geltung besitzt. Natürlich kann auch hier der Erfolg in
gewissem Sinne dem Gesammteindruck zugeschrieben werden. Dieser
kann aber eben das Vergleichsurtheil nur dadurch im Sinne des that-
sächlichen Verhältnisses zwischen beiden Vergleichsobjecten in ihrer
ganzen Ausdehnung beeinflussen, dass er alle einzelnen Bewusstseins-
elemente in sich enthält, welche dem simultan dargebotenen Reiz-
complex entstammen. Bei UnwissentMchkeit hinsichtlich der variirten
Stelle ist dies also nur ein anderer Ausdruck für die gerade ge-
forderte Thatsache, dass wirklich nur die simultanen Bewusstseins-
momente in ihren augenblicklich vorhandenen Klarheitsgraden für
das Vergleichsurtheil verantwortlich gemacht werden können. Tritt
aber irgend eine Stelle des Ganzen aus einem beliebigen Grunde,
z. B. wegen zu großer anderweitiger Absorption der Aufmerksamkeit,
völlig aus der Gesammtvorstellung zurück oder verliert sie in ent-
sprechendem Maße an Klarheit, so wird eine bestimmte Variation an
der betreffenden Stelle auch das Vergleichsurtheil nicht beeinflussen
können. *)
Die Vertheilung des Bewusstseins mit seinen verschiedenen Graden
auf das Blickfeld ist natürlich auch hier durch die absichtliche innere
Einstellung des Beobachters möglichst constant zu erhalten, am besten
1) Ueber die Bedeutung des Q-esammteindrucks abgesehen von den einzelnen
Elementen vgl. auch noch unten Absatz 14 dieses Capitels.