Page 604 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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592 Wilhelm Wirth.
umfang dann so weit anzusetzen, als überhaupt noch ein Gleichheits-
urtheil gefällt werden könnte. Die Ausbildung einer bestimmten
Erwartung der Grleichheit könnte dabei natürlich immerhin noch
sicher genug verhindert werden, vor allem durch häufige »Yexir-
versuche« mit beliebiger Variation und durch Anstreben einer mög-
hchst großen Objectivität seitens des Beobachters. Doch würde na-
türlich bei größeren Complexen, in welchen nicht mehr jedes Element
einen hinreichenden Bewusstseinsgrad besitzen kann, das auf das
Ganze bezogene Yergleichsurtheil in der schon früher erwähnten
Weise selbst eine entsprechende Unsicherheit besitzen, während das
Bestreben dieser indirecten Yergleichsmethode gerade darauf gerichtet
ist, Wirkungen der weniger klaren Elemente zu verwerthen, welche
ein sicheres Yergleichsbewusstsein in sich enthalten. Es liegt
aber nun im Wesen der unklar erlebten Yorstellungen, dass die Er-
innerung, bezw. die eben abklingende Vorstellung selbst, welche in dem
speciellen Continuitätserlebniss des Yergleichsactes zu der Yergleichs-
vorstellung in Beziehung tritt, innerhalb gewisser Grenzen unsicher
ist. Es ist dies nur eine besondere Seite der allgemeinen
Thatsache der Unterschiedsschwelle. Dabei ist hier natürlich
keineswegs eine aprioristische Erkenntniss über den Umfang dieser
»Schwankung« in Abhängigkeit von irgend welchen Qualitäten der
Reize angenommen, üeberhaupt kann die »Schwankung« nicht einen
inhaltlichen Vorgang, etwa eine Schwingung zwischen qualitativen
Extremen darstellen, wie man es sich manchmal in handgreiflicherer
Weise vorzustellen sucht i). Diese Anschauung könnte natürlich für
das Bewusstsein der Unsicherheit deshalb keine rechte Erklärung ver-
schaffen, weil ja eben dann lauter ganz sichere Vergleichsurtheile, nur
eben bald alsVerschiedenheits-, bald als Gleichheitsbewusstsein, kurz ein
sicheres Bewusstsein dieser inhaltlichen Veränderungen selbst, sich
ergeben mlissten, sobald diese Schwankungen in jedem Augenblicke
einen ganz bestimmten Inhalt repräsentiren würden. Gerade dieses
Letztere ist aber eben nicht der Fall, und in diesen Grenzen der
subjectiven Unsicherheit des Beurtheilenden besteht eben die
primäre Bewusstseinserscheinung, welche alle Erklärungsversuche der
Unterschiedsschwelle, soweit sie mit qualitativen Veränderungen der
1) U. a. auch Psych. Rev. VII, 1900 S. 24, L. M.Solomons A new explanation
of Webers Law.